Immunsystem aus der Balance - Neue Forschungsergebnisse zur Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose

Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems, an der allein in Deutschland schätzungsweise 130.000 Menschen erkrankt sind. Während im Blut von Gesunden meist sehr viele entzündungshemmende Immunzellen zirkulieren, zeigt das Blutbild von Patienten mit Multipler Sklerose einen Überschuss an entzündungsfördernden Zellen. Dieses Missverhältnis, so vermuten Wissenschaftler, ist wahrscheinlich eine Ursache dafür, dass bei Multipler Sklerose das Immunsystem aus der Balance gerät und das zentrale Nervensystem angreift.

Dendritische Zellen sind antigenpräsentierende Zellen, die eine Schlüsselrolle in der Immunabwehr des Körpers haben. Stoßen sie auf Eindringlinge von außen, wie zum Beispiel Viren oder Bakterien, aktivieren sie T-Zellen, die ihrerseits helfen, infizierte Zellen zu beseitigen. Bei Patienten mit der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, kurz MS, sind die T-Zellen jedoch unabhängig von einer Infektion aktiv und greifen das zentrale Nervensystem an. Aber warum sind die T-Zellen bei MS-Patienten überaktiv? Es mehren sich Hinweise, dass eine bestimmte Gruppe der dendritischen Zellen, die plasmazytoiden dendritischen Zellen, hierfür verantwortlich ist.

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die plasmazytoiden dendritischen Zellen im Blut keine einheitliche Zellpopulation sind, sondern – je nach ihrem Reifegrad – in zwei verschiedene Gruppen unterteilt werden können. „Diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Oberflächenmoleküle und der Botenstoffe, die sie freisetzten. Je nach Typus verhalten sie sich auch bei der T-Zell-Aktivierung anders – entweder entzündungshemmend oder entzündungsfördernd“, sagt Prof. Dr. Heinz Wiendl vom Universitätsklinikum Münster und Sprecher des Kompetenznetzes Multiple Sklerose.

Überschuss an entzündungsfördernden Zellen

Im Fall einer Infektion erzeugen die dendritischen Zellen des ersten Typs regulatorische T-Zellen, die Immunreaktionen abschwächen, das Immunsystem beruhigen und so übersteigende Entzündungsprozesse verhindern können. Dendritische Zellen des zweiten Typs hingegen aktivieren Th17 T-Zellen, die entzündungsfördernd wirken. Damit unser Immunsystem nicht aus dem Ruder läuft, müssen diese zwei Formen plasmazytoider dendritischer Zellen in einem bestimmten Verhältnis im Blut vorliegen. Gesunde Menschen besitzen vorwiegend dendritische Zellen des ersten Typs, also die entzündungshemmende Form. „Die Zellen treten in einem Verhältnis von 4,4 : 1 auf. Das bedeutet, auf eine dendritische Zelle des zweiten Typs kommen im Blut von Gesunden mehr als vier Zellen des ersten Typs.“ Dieses Verhältnis ist bei Patienten mit Multipler Sklerose genau umgekehrt. Hier dominiert der zweite, also der entzündungsfördernde Zelltyp. Auf jede dendritische Zelle des zweiten Typs kommen bei MSPatienten weniger als 0,7 Zellen des ersten Typs. Die Folge: Die dendritischen Zellen erzeugen einen Überschuss an entzündungsfördernden Th17 T-Zellen und das Immunsystem gerät aus der Balance.

Interferone stellen das Gleichgewicht wieder her

Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Das gestörte Verhältnis der dendritischen Zellen kann sich durch Medikamente wieder normalisieren. „Werden MS-Patienten ein Jahr lang mit Interferon-Beta behandelt, nähert sich ihr Blutbild langsam dem von Gesunden an“, sagt Professor Wiendl. Interferone sind körpereigene Proteine, die eine immunmodulierende Wirkung entfalten und in der MS-Therapie häufig zum Einsatz kommen. Zukünftig wäre es denkbar, dass Ärzte den Erfolg einer Interferon-Therapie zusätzlich zu den bislang durchgeführten neurologischen Untersuchungen auch daran messen, wie das Medikament die Immunzellen der Patientinnen und Patienten beeinflusst. „Hierbei wäre dann auch das Verhältnis von plasmazytoiden dendritischen Zellen des ersten und zweiten Typs von Bedeutung.“

Missverhältnis ist spezifisch für MS

Interessant ist, dass die von den Forschern beobachtete Fehlverteilung der dendritischen Zellen nur bei Multipler Sklerose, nicht aber bei anderen Autoimmunerkrankungen, wie Rheumatoider Arthritis oder der Muskelschwäche Myasthenia gravis, auftritt. „Das Missverhältnis ist also vermutlich spezifisch für die Multiple Sklerose und kein generelles Problem bei Autoimmunerkrankungen. Ob es allerdings schon auftritt, bevor die Krankheit entsteht, oder erst während ihres Verlaufs, ist bislang noch unklar“, erklärt Professor Wiendl. Das Forschungsprojekt wurde im Rahmen eines deutsch-polnischen Kooperationsprojekts innerhalb des krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Das krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose

Das krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zusammenzubringen, um die Patientenversorgung zu verbessern. Ziel des Kompetenznetzes Multiple Sklerose ist es, Ursachen und Verlaufsformen der MS zu erforschen sowie Diagnostik und Therapie zu verbessern. Mit seinem Startschuss im Jahr 2009 ist das Kompetenznetz zunächst auf drei Jahre angelegt und soll dann in drei weiteren Förderphasen bis zum Jahr 2021 fortgeführt und ausgebaut werden. Für die erste Förderphase wurden drei Forschungsverbünde ausgewählt. Im Mittelpunkt des Verbundes CONTROLMS steht eine große Patientenstudie, mit der neue Krankheitsmerkmale identifiziert werden sollen. UNDERSTANDMS befasst sich mit Entstehung und Entwicklung der Multiplen Sklerose und der Verbund CHILDRENMS hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Patientenregister für Kinder mit Multipler Sklerose aufzubauen. Auf diese Weise soll die Häufigkeit kindlicher MS in Deutschland und das Spektrum des Krankheitsverlaufs in jungen Jahren bestimmt werden.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Heinz Wiendl
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Abteilung für Entzündliche Erkrankungen
des Nervensystems und Neuroonkologie
Domagkstraße 13
48149 Münster
Tel.: 0251 83468–11
Fax: 0251 83468–12
E-Mail: heinz.wiendl@ukmuenster.de