Mai 2024

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Abwasser als Frühwarnsystem für gefährliche Erreger

Das Abwasser liefert früher repräsentative Informationen über ein Infektionsgeschehen als andere Datenquellen. Das macht sich das Forschungsteam INSIDe zunutze. Es entwickelt eine Plattform, die Vorhersagen zur Ausbreitung von Erregern ermöglicht.

Fachkraft untersucht Abwasser im Labor

Abwasserproben liefern schneller und zuverlässiger Daten zum Infektionsgeschehen als das Krankenhäusern oder Gesundheitsbehörden aufgrund von Fallzahlen möglich wäre.

AG Wieser, Tropeninstitut LMU-Klinikum München

Abwasser ist eine zuverlässige Datenquelle, weil praktisch jeder Mensch, ob er will oder nicht, mit dem Gang zur Toilette anonym Informationen zur Verfügung stellt. Daraus wiederum lässt sich ableiten, wie hoch die Krankheitslast der Bevölkerung in einer bestimmten Region ist. Dabei lassen sich viele Krankheitserreger aus dem menschlichen Organismus im Abwasser nachweisen, noch bevor die Betroffenen Symptome entwickeln und sich krank fühlen. „Andere Daten zum Infektionsgeschehen bekommen Forscher dagegen erst mit deutlicher Verzögerung“, erklärt Professor Jan Hasenauer von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er leitet den Forschungsverbund INSIDe, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Modellierungsnetzes für schwere Infektionskrankheiten, kurz MONID, gefördert wird. Das Forschungsteam um Hasenauer entwickelt eine Softwareplattform, mit der die Ausbreitung von im Abwasser nachweisbaren Infektionskrankheiten simuliert und Infektionsausbrüche somit frühzeitig erkannt werden können.

Aussagen über Infektionsgeschehen basieren auch heute oft auf Fallzahlen in Krankenhäusern oder Meldedaten der Gesundheitsbehörden. Während der SARS-CoV-2-Pandemie wurde das zu einer zusätzlichen Herausforderung, denn oft kamen Patientinnen und Patienten erst eine Woche nach Beginn der Infektion in die Klinik und das auch nur dann, wenn es ihnen besonders schlecht ging. Dadurch wurden viele Fälle nicht diagnostiziert oder nur schwere Fälle erfasst. So zeigten die während der Pandemie erhobenen Daten nur die Spitze des Eisbergs und dies zudem verspätet. Seither untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer mehr Abwasserproben. Deren Analysen geben den verantwortlichen Stellen inzwischen eine gewisse Vorlaufzeit. „Je nach Erreger können das ein paar Tage bis zu einer Woche sein“, sagt Hasenauer. „So können die Verantwortlichen frühzeitiger auf das Infektionsgeschehen reagieren, die Bevölkerung über etwaige Gefahren informieren oder entsprechende Gegenmaßnahmen anstoßen.“

Analyse des Abwassers nicht auf SARS-CoV-2 beschränkt

Zu Beginn der Forschungsarbeit stand das Monitoring von SARS-CoV-2 auf der Grundlage von Abwasserproben im Vordergrund, heute geht es um viele andere Erreger. „Das Gute an Abwasser ist, dass wir nicht auf SARS-CoV-2 beschränkt sind“, erklärt Hasenauer. „Wir können uns in einer einzelnen Probe Dutzende Erreger anschauen und auch auf Aspekte wie Antibiotikaresistenzen untersuchen.“ Mit den Ergebnissen aus den Proben lassen sich Behandlungen dann gezielter durchführen und vor allem regional abstimmen.

In München finanziert das BMBF über INSIDe mehrere Stationen zur Probeentnahme im Stadtgebiet. Zusätzlich unterstützen auch das Land Bayern und die Stadt München das Abwassermonitoring. Das macht eine Analyse mit einer höheren räumlichen und zeitlichen Auflösung möglich. Innerhalb von INSIDe kümmert sich eine Arbeitsgruppe am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) darum, dass die Abwasserproben entnommen und untersucht werden.

Genaue Ortskenntnis für möglichst exakte Modellierung erforderlich

Weil Abwassernetze stark variieren, braucht man für das Modell sehr genaue Kenntnisse über die Gegebenheiten vor Ort. Jede Kommune ist unterschiedlich hügelig und verwinkelt, sodass die Abwasserleitungen beispielsweise verschiedene Höhenunterschiede bewältigen müssen. Dadurch gleicht kein Abwassernetz dem anderen. Darum erfasst die INSIDe-Plattform zunächst nur München. „Man muss genau berücksichtigen, wie lange das Abwasser an welchen Punkten steht und wie schnell es fließt. Viruspartikel und andere Erreger werden im Abwasser abgebaut, verdünnt oder zerfallen“, so Hasenauer. „Je nachdem wie viel Zeit seit ihrer Freisetzung, also von der Toilette zur Entnahmestelle, vergeht, ist unterschiedlich viel Virus-RNA in der Messung zu erwarten.“ Um einschätzen zu können, wie die räumliche Verteilung eines Infektionsgeschehens aussieht, berücksichtigt die Plattform diese Informationen bei der Berechnung und greift auf die Erfahrung der Softwarefirma Tandler bei der Simulation von Abwassernetzen zurück, einem Verbundpartner von INSIDe. Der Code für die in INSIDe entwickelte Plattform wird frei verfügbar gemacht, sodass Städte oder Forschungsgruppen, die ein Monitoring etablieren möchten, darauf zurückgreifen und sie an ihre Bedarfe anpassen können. Wenn alles nach Plan läuft, kann der Programmier-Code hierfür im Herbst 2024 geteilt werden.

Die INSIDe-Plattform beinhaltet auch ein detailliertes Modell für das Infektionsgeschehen, basierend auf Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln. Dementsprechend können Forschende mithilfe der Plattform auch Interventionsszenarien beschreiben. Es lässt sich beispielsweise in der Tendenz abschätzen, wie sich die Absage von Großveranstaltungen, die Schließung von Bars und Restaurants oder andere Beschränkungen von Kontakten durch bestimmte Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen auswirken.

Inzwischen besser für eine Pandemie gewappnet

Das Modellierungsnetz MONID umfasst eine Reihe von Forschungsprojekten mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen. Das reicht vom Abwassermonitoring bei INSIDe bis hin zum Einfluss von sozialen Komponenten wie Kommunikationsaspekten. Alle diese Aspekte sollen am Ende in eine ganzheitliche Betrachtung integriert werden und in Modelle fließen, die zuverlässige Prognosen und Analysen des gesamten Infektionsgeschehen ermöglichen. „Diesem Ziel sind wir schon einen großen Schritt nähergekommen“, sagt Hasenauer. „Wir sind jetzt definitiv deutlich besser gewappnet als zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie. Die Interaktion, die in diesem Netz aufgebaut wurde, der Austausch zwischen Forschergruppen und die gemeinsame Entwicklung von Modellen, das alles hat uns deutlich weitergebracht.“

Gebündeltes Wissen über die Ausbreitung von Infektionskrankheiten

Modellrechnungen können enorm helfen, wenn es darum geht, die Entwicklung einer Pandemie vorherzusagen. Das hat die SARS-CoV-2-Pandemie gezeigt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) will diese Kompetenz mit einem Modellierungsnetz zur Ausbreitung schwerer Infektionskrankheiten weiter stärken. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt Modellierung sollen sich untereinander vernetzen und interdisziplinär mit relevanten Fachdisziplinen wie Virologie und Epidemiologie intensiv zusammenarbeiten. Das Modellierungsnetz soll dazu beitragen, für künftige Pandemien möglichst gut aufgestellt zu sein. Das BMBF fördert das Netz mit sieben Forschungsverbünden, darunter INSIDe, seit 2022 mit über 14 Millionen Euro.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Jan Hasenauer
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Endenicher Allee 64
53115 Bonn
Tel.: 0228 73-69446
E-Mail: jan.hasenauer@uni-bonn.de