Jedes Jahr erleiden in Deutschland fast 250.000 Menschen einen Schlaganfall. Ein Drittel der Betroffenen tragen nach einem „Infarkt des Gehirns“ dauerhafte Sehschäden davon. Nicht selten verlieren sie einen Teil oder sogar die Hälfte ihres Gesichtsfeldes. Wie Betroffenen geholfen werden kann, haben nun Neuropsychologen erforscht. (Newsletter 63 / August 2013)
Unser Gehirn ist lern- und anpassungsfähig – auch nach einer Schädigung. Das macht sich Professor Dr. Josef Zihl zunutze. Er arbeitet als Neuropsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität und am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und hilft Patientinnen und Patienten mit eingeschränktem Gesichtsfeld dabei, ihre Sehbehinderung zu reduzieren. „Ein eingeschränktes Sichtfeld bedeutet zum Beispiel, dass Patienten mit halbseitigem Gesichtsfeldverlust wirklich nur die Hälfte dessen sehen, was ein Gesunder sieht. Die komplette rechte oder linke Hälfte ihres Gesichtsfeldes fehlt“, erklärt Professor Zihl.
Ein Beispiel. Dieter Schwarz [Name von der Redaktion geändert] hatte einen Schlaganfall und leidet nun unter einem solchen „homonymen“ Gesichtsfeldausfall. Er hat im Alltag Probleme, den visuellen Überblick zu behalten, und auch das Lesen fällt ihm schwer. Herrn Schwarz geht es wie rund 70 Prozent der Patienten mit homonymem Gesichtsfeldausfall, dem eine Schädigung des zentralen visuellen Systems zugrunde liegt: Seine Sehbehinderung bildet sich weder spontan zurück, noch kann er den Ausfall des Gesichtsfeldes kompensieren. Hier kommen die Neuropsychologen ins Spiel. Dieter Schwarz war einer von rund 50 Patienten, die an einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie teilnahmen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie erlernen Blickstrategien, um ihre Sehbehinderung zu kompensieren. „Das Training besteht aus systematischem Üben von Blickbewegungen zur betroffenen Seite hin, um Szenen und Wörter, die auf einem großen Bildschirm dargeboten werden, wieder ganzheitlich erfassen und verarbeiten zu können“, erklärt Professor Zihl. Dazu werden softwarebasierte Aufgaben verwendet, die durch die individuelle Anpassung des Schwierigkeitsgrades eine für jeden Patienten maßgeschneiderte Behandlung erlauben. „Das systematische und gezielte Vorgehen ist dabei sehr wichtig, da viele Patienten mit Gesichtsfeldverlust ihren Blick unkoordiniert steuern, in der Hoffnung, so den Überblick zu behalten“, so der Neuropsychologe. „Wir bringen ihnen bei, die Bewegung ihres Blickes an ihren Gesichtsfeldausfall anzupassen.“
Lesen lernen ohne Wörter
Das Gleiche gilt für die Textverarbeitung als Voraussetzung für ein flüssiges Lesen. Auch hier lernten die Betroffenen, ihre Blickbewegung zum Beispiel an die Wortlänge anzupassen − mit Erfolg. Professor Zihl: „Sowohl der visuelle Überblick als auch die Leseleistung der Patienten verbesserte sich durch unser Training deutlich.“
Für das Lesetraining ist es interessanterweise nicht nötig, dass die Patienten tatsächlich Wörter unterschiedlicher Länge und Schwierigkeit vorgelegt bekommen. Zum Üben reichen auch einfache Markierungen, die Wörter unterschiedlicher Länge simulieren. „Um wieder Lesen zu lernen, ist also nur entscheidend, dass die Muster der Blickbewegung wiedererlernt werden, die für unsere Textverarbeitung nötig sind. Semantische Reize sind nicht erforderlich.“ Klar ist auch, dass tatsächlich spezifische und maßgeschneiderte Trainingseinheiten für verschiedene visuelle Fertigkeiten nötig sind. „Derzeit planen wir, die Wirksamkeit dieser Behandlungsverfahren in einer großen multizentrischen klinischen Studie zu untersuchen“, beschreibt Professor Zihl.
Blick ins Gehirn
Die Wissenschaftler interessieren sich auch dafür, was im Gehirn der Patienten während des Trainings passiert. Hierfür wurde die Hirnaktivität der Studienteilnehmer vor, während und auch nach den Lerneinheiten untersucht. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie, kurz fMRT. „Es zeigte sich, dass es zu trainingsbedingten Veränderungen in der Aktivität von präfrontalen und posterior parietalen Hirnregionen kommt, die für die Steuerung der Blickbewegungen im Raum und für die ganzheitliche Erfassung der Außenwelt wichtig sind“, sagt Professor Zihl. Noch wurden allerdings zu wenig Patienten untersucht, um genaue Aussagen darüber zu machen, welche Hirnareale für die funktionelle Plastizität des Gehirns zuständig sind. „Das werden wir weiter untersuchen.“
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Josef Zihl
Universität München
Department Psychologie - Neuropsychologie
Leopoldstraße 13
80802 München
E-Mail: zihl@psy.lmu.de