Fachleute entscheiden, aber eine Künstliche Intelligenz (KI) spricht Empfehlungen aus: So könnte die Nachsorge von älteren Patientinnen und Patienten nach einer Operation künftig organisiert werden. Davon profitieren Betroffene, Angehörige und Kliniken.
Ein Sturz, ein Knochenbruch, ein Krankenhausaufenthalt – das kann, aber muss für ältere Menschen nicht das Ende der Selbstständigkeit bedeuten. „Patientinnen und Patienten im fortgeschrittenen Alter profitieren stark davon, wenn ein Team aus spezialisierten Altersmedizinerinnen und -medizinern sowie Pflegefachpersonen und Mitarbeitenden aus Sozialdienst und Therapie die Behandlung unterstützt“, sagt Professor Dr. Michael Denkinger, Geriater und Ärztlicher Direktor der Agaplesion Bethesda Klinik in Ulm. „Ein geriatrisches Co-Management trägt zu einer Verringerung der Sterblichkeit bei und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ältere Menschen in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren können.“
Doch Fachkräfte für Altersmedizin sind knapp – und gleichzeitig nimmt die Anzahl älterer Patientinnen und Patienten in deutschen Kliniken zu. Hier setzt das von Denkinger geleitete und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt SURGE-Ahead an: Die Forschenden arbeiten an einem digitalen Programm, das in chirurgischen Kliniken auch ohne spezialisiertes Beratungsteam die Behandlung und Nachsorge älterer Patientinnen und Patienten unterstützen kann. „Häufig leiden ältere Menschen an mehreren gesundheitlichen Einschränkungen gleichzeitig, und die akute Erkrankung ist nur eines von vielen Problemen“, so Denkinger. „Ebenso müssen beispielsweise eine Mangelernährung, Muskelschwäche, eingeschränkte körperliche Funktionen, ein neuer Verwirrtheitszustand oder auch Probleme mit dem Sehen oder Hören berücksichtigt werden. Das sind alles Faktoren, die üblicherweise in der Chirurgie oder anderen nichtgeriatrischen Kliniken nur unvollständig berücksichtigt werden, aber für den Erfolg der Behandlung oft entscheidend sind.“
Warnung vor unverträglichen Medikamenten oder Delir
Die digitale Anwendung soll hier Abhilfe schaffen: Verschiedene Informationen wie bereits existierende Daten aus dem Krankenhausinformationssystem und zusätzlich erhobene geriatrische Daten der jeweiligen Patientinnen und Patienten werden in der Anwendung erfasst, mittels KI-gestützter Verfahren ausgewertet und in praxisnahe Empfehlungen „übersetzt“. „Durch Hinweise und Warnmeldungen können wir die stationäre Versorgung verbessern. Das System kann beispielsweise auf kritische Medikamente hinweisen oder vor einem möglichen Delir – einem akuten Verwirrtheitszustand – nach einer Vollnarkose warnen“, erläutert Denkinger. „Wir können so aber auch die Entscheidung für eine geeignete Nachsorgeeinrichtung unterstützen, indem wir alle Faktoren einbeziehen, die für oder gegen eine Entlassung in ein Pflegeheim, eine Rehabilitationsklinik oder in die häusliche Versorgung sprechen.“
Der Schlüssel für eine funktionierende Anwendung ist eine Vielzahl von aussagekräftigen Daten. Doch welche Parameter sind überhaupt entscheidend für eine hilfreiche Empfehlung? Im ersten Schritt führten die Forschenden aufwändige Literaturrecherchen durch, um wissenschaftlich belegte Empfehlungen zur Behandlung und Nachsorge älterer Menschen zu finden. Um auch die Praxis einzubeziehen, wurden zusätzlich Interviews mit Fachpersonen verschiedener Berufsgruppen geführt. „Unser Ziel war es, einen Datensatz zu schaffen, der möglichst klein ist und mit so wenig zusätzlichen Daten wie möglich auskommt – denn gerade in chirurgischen Kliniken ist die Zeit für zusätzliche Datenerhebungen oft knapp“, so Denkinger. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass vermutlich schon mit geringem zeitlichem Mehraufwand eine KI-gestützte Empfehlung ausgesprochen werden kann: „Wir rechnen im Moment damit, dass nur acht bis zehn Minuten zusätzlich für Datenerhebungen notwendig sind, um eine passgenaue Versorgung vorzuschlagen – und zwar sowohl, was die Medikation, als auch, was die Weiterversorgung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus angeht.“
Wissenschaftlich basierte Entscheidungen – die KI kennt alle wichtigen Daten
Dargestellt werden die Ergebnisse der Datenanalyse auf einem sogenannten Dashboard, also einer Benutzeroberfläche, auf der das medizinische Fachpersonal die gesammelten Daten und Empfehlungen in übersichtlicher Weise ablesen kann. Und hier spielen durchaus auch optische Kriterien eine Rolle, so Denkinger: „Unser Ziel ist, dass das Fachpersonal dieses Tool gern nutzt und als echte Unterstützung im hektischen Klinikalltag sieht.“
Derzeit wird eine Beobachtungsstudie zum Training der KI durchgeführt, an der bereits über 100 Patientinnen und Patienten teilnehmen. Aus dem breit angelegten Datensatz sollen dann mittels maschinellem Lernen Parameter identifiziert werden, die sowohl auf mögliche Komplikationen während des Krankenhausaufenthaltes hinweisen als auch eine sinnvolle Weiterversorgung gut vorhersagen können. So könnte beispielsweise eine gravierende Inkontinenz als ein gesundheitliches Problem identifiziert werden, das eine Rückkehr in das häusliche Umfeld unwahrscheinlich macht und deshalb im Programm entsprechend gewichtet werden muss. In einer geplanten zweiten Förderphase soll dann die Anwendung des Programms im Rahmen einer weiteren Studie getestet werden.
Aufgeschlossenheit beim medizinischen Personal
Doch wie nehmen die Fachärztinnen und -Fachärzte und die Pflegefachpersonen in den Chirurgischen Kliniken die Entwicklung einer solchen Anwendung auf – sind sie bereit, zusätzliche Daten für eine digitale Anwendung zu erheben und sich von dieser eines Tages sogar beraten zu lassen? Denkinger hat gute Erfahrungen gemacht und fasst zusammen: „An den bislang beteiligten drei Chirurgischen Kliniken wird der Ansatz sehr gut aufgenommen – auch wenn die Datenerhebung zunächst mehr Zeit kostet. Gute Ärztinnen und Ärzte und gute Pflegefachpersonen sehen immer den ganzen Menschen, nicht nur einen Erfolg im eigenen Fachbereich. Und wenn eine neue Hüfte nicht nur exzellent eingebaut wurde, sondern der Patient auch wieder fit genug wird, damit zu laufen, freut das alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen.“
Stärkung der Forschung in der Geriatrie und Gerontologie
Mit der Fördermaßnahme „Stärkung der Forschung in der Geriatrie und Gerontologie“ unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) acht Einzelvorhaben mit insgesamt bis zu 13 Millionen Euro an Hochschulstandorten, an denen eine neue Professur oder Nachwuchsgruppe in der Geriatrie oder Gerontologie eingerichtet wurde. Ziel ist es, die Altersforschung – die Geriatrie und Gerontologie – zu stärken, denn das hier erarbeitete Wissen trägt dazu bei, dass in der Versorgung die vielfältigen Bedürfnisse von älteren Menschen stärker berücksichtigt werden. SURGE-Ahead („Supporting SURgery with GEriatric co-management and AI“) ist eines dieser Projekte und wird bis zum Jahr 2024 mit rund zwei Millionen Euro gefördert.
Originalpublikationen:
Kocar, T., Denkinger, M., Dallmeier, D., Fotteler, M., Leinert, C. (2022). Evidence-based recommendations for acute orthogeriatric care: a systematic review of clinical practice guidelines. PROSPERO 2022 CRD42022292141. Available from: https://www.crd.york.ac.uk/prospero/display_record.php?ID=CRD42022292141
Leinert, C., Fotteler, M., Kocar, T., Dallmeier, D., Denkinger, M. (2022). Predictors and outcomes of interest of continuity of care decisions for older inpatients in acute care settings: a scoping review. https://doi.org/10.17605/OSF.IO/YJZAX
Leinert, C., Fotteler, M., Kocar, T. D., Dallmeier, D., Denkinger, M., et al. (2023). SURGE-Ahead Study Group. Supporting SURgery with GEriatric Co-Management and AI (SURGE-Ahead): A study protocol for the development of a digital geriatrician. PLoS One. 2023 Jun 16;18(6):e0287230. DOI: 10.1371/journal.pone.0287230
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Michael Denkinger
Chefarzt und Ärztlicher Direktor
Agaplesion Bethesda Klinik Ulm
Zollernring 26
89073 Ulm
E-Mail: michael.denkinger@agaplesion.de