Artensterben im Darm - Wenn das Ökosystem Darm aus dem Gleichgewicht gerät

Im menschlichen Darm wimmelt es nur so von Bakterien. Die meisten davon sind nützliche Helfer, etwa bei der Verdauung oder Immunabwehr. Ist die Darmflora verändert, können Krankheiten entstehen. Auch bei der entzündlichen Darmerkrankung Colitis ulcerosa ist die Darmflora in ihrer natürlichen Zusammensetzung gestört. Die Artenvielfalt der Darmbakterien ist stark reduziert, vergleichbar mit dem Artensterben in einem zerstörten Lebensraum. Und nicht nur das: Auch das Zusammenspiel zwischen Darm und Darmflora funktioniert nicht mehr. (Newsletter 54 / November 2011)

Unser Darm mit der darin enthaltenen Darmflora gleicht einem komplexen Ökosystem. Nicht nur die Vielfalt der Bakterienist für das Gleichgewicht dieses Ökosystems von Bedeutung, sondern auch die Interaktion zwischen Darmschleimhautund Darmflora. „Vielfach können Darmbakterien ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie optimal mit der Darmschleimhautinteragieren“, beschreibt Dr. Robert Häsler von der UniversitätKiel. Hierbei spielt die molekulare Ausstattung der Darmschleimhaut eine wichtige Rolle. Sowohl auf Seiten der Bakterien als auch der Darmschleimhaut (Mukosa) müssenspezifische Gene exprimiert werden, zum Beispiel Gene für bestimmte Oberflächenrezeptoren. So kommt beim gesunden Menschen eine stabile Partnerschaft zwischen Menschund Darmflora zustande. Erstmalig wurde nun in einer Studie des Nationalen Genomforschungsnetzes NGFN mit Unterstützungdes Bundesministeriums für Bildung und Forschung(BMBF) belegt, dass bei Patienten mit der chronisch entzündlichen Darmerkrankung Colitis ulcerosa das Zusammenspiel zwischen Darmschleimhaut und Darmflora massiv gestört ist.

 Das doppelte Lottchen

Durch die Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Zwillingen können Wissenschaftler herausfinden, welche Erkrankungen genetisch vererbt und welche durch Umwelteinflüsse erworben werden.In der Studie wurden die Darmflora und das Transkriptionsprofilder Darmschleimhaut von eineiigen Zwillingen untersucht, von denen nur ein Zwilling an Colitis ulcerosa leidet. „Zwillinge sind hierfür besonders gut geeignet. Denn eineiige Zwillinge sind genetisch identisch, so dass wir exakt herausfinden können, was sich beim Ausbruch einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung in der Darmflora und imExpressionsprofil der Darmschleimhaut verändert“, sagt Dr. Häsler. Die Ergebnisse wurden sowohl mit gesunden Zwillingspaaren als auch mit Personen ohne verwandtschaftliche Beziehung verglichen. Hierbei stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest, dass die Vielfalt der Darmflora bei Zwillingen mit Colitis ulcerosa deutlich verringert ist: „Die Artenvielfalt der Darmflora wird durch chronisch entzündliche Darmerkrankungen stark reduziert – vergleichbar mit dem Artensterben in einem zerstörten Lebensraum.Unter diesem Artenschwund leiden Bakterien, die für den Menschen wichtige schützende Funktionen im Darm übernehmen, besonders stark“, so Dr. Häsler.

 Interaktion geht verloren

Aber nicht nur die Vielfalt der Bakterien ist gestört, sondern auch ihre Interaktion mit dem Darm. Um diese Interaktion zwischen Darmbakterien und Mukosa abzuschätzen, haben die Biologen des NGFN die Aktivität spezifischer Gene der Darmschleimhaut gemessen und deren Interaktion mit den vorhandenen Darmbakterien untersucht. Während bei Gesunden eine enge Interaktion gemessen werden konnte (34 Interaktionssignale), zeigten die Zwillinge mit Colitis ulcerosa fast keine Interaktion zwischen Mukosa und Bakterien (11 Interaktionssignale). Ihre gesunden Geschwister hingegen lagen zahlenmäßig genau dazwischen (25 Interaktionssignale). „Diese Ergebnisse zeigen erstmals, dass bei Patienten mit Colitis ulcerosa nicht nur die Darmflora verändert ist, sondern zugleich die Interaktion zwischen Darmbakterien und Darmschleimhaut nahezu komplett verloren geht“, erklärt Dr. Häsler.

Interessant ist, dass die Geschwister der erkrankten Zwillinge –obwohl sie gesund sind – im Vergleich zu unabhängigen gesunden Personen auch eine verringerte Bakterienvielfalt und verminderte Interaktionssignale aufweisen. „Dies deuten wir als eine Art Zustand vor dem Ausbrechen der Erkrankung“, sagt Dr. Häsler.

Derzeit wird angenommen, dass chronisch entzündliche Darmerkrankungen durch eine Kombination aus Erbanlagen und Umwelteinflüssen entstehen. „Bisher wurden Mensch und Darmflora immer als unabhängige Partner betrachtet. In Zukunft wird man deutlicher auf das Zusammenspiel der beiden Partner achten müssen“, sagt Dr. Häsler. So könnte das Ziel zukünftiger Therapien sein, die Wechselwirkung zwischen Darmschleimhaut und Darmbakterien therapeutisch wiederherzustellen.


Morbus Crohn und Colitis ulcerosa

Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall – das sind die wichtigsten Symptome einer Darmerkrankung. Bei einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung treten diese Symptome immer wieder und ohne einen äußeren Anlass, teils lang anhaltend oder sogar kontinuierlich auf. Bislang gibt es keine Heilung. Die beiden häufigsten chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sind der Morbus Crohn, eine nicht selten den gesamten Verdauungstrakt betreffende geschwürige Darmentzündung, und die Colitis ulcerosa, eine geschwürige Dickdarmentzündung. In Deutschland sind schätzungsweise mehr als 300.000 Menschen von einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung betroffen. Meist treten sie zum ersten Mal im Alter von 20 bis 30 Jahren auf.


Ansprechpartner:
Dr. Robert Häsler
Institut für Klinische Molekularbiologie
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Schittenhelmstraße 12
24105 Kiel
Tel.: 0431 597-4266
Fax: 0431 597-1842
E-Mail: r.haesler@mucosa.de