Chronisch entzündliche Erkrankungen sind in modernen Industriegesellschaften auf dem Vormarsch. Professor Stefan Schreiber sucht als Mediziner und Forscher nach Wegen, diese Krankheiten durch individuelle Therapiesteuerung effektiver zu bekämpfen.
Stefan Schreiber hat einen Beruf, der ihm viel abverlangt: eine 80 bis 90 Stunden-Woche, keine Zeit für Hobbies, wenig Zeit für die Familie und ein Telefon, das auch nach Feierabend klingelt. Doch der 60-jährige Mediziner und Forscher hat nie daran gezweifelt, dass er auf dem richtigen Weg ist. „Der Erfolg ist eine gute Entschädigung“, sagt er. „Und Erfolg verstehe ich in erster Linie inhaltlich – dass sich für offene Fragen in der Medizin Lösungen finden, auch mit meinem Beitrag.“ Stefan Schreiber ist Professor an der Universität Kiel und leitet zugleich die Klinik I für Innere Medizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Er hat mehr als 950 Originalarbeiten in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht. Im Jahr 2021 zählte er zum wiederholten Male zu den meistzitierten Forschern weltweit.
Seine Erfolge sind messbar, in konkreten Fortschritten für die Medizinforschung und damit für Patientinnen und Patienten. „Wir haben Krankheitsgene entdeckt, wir haben neue Therapien in die klinische Anwendung gebracht und wir sind gerade dabei, die Diagnostik umzukrempeln“, sagt Schreiber. „Und natürlich gehören auch die Menschen dazu, denen wir geholfen haben, über ihre Krankheit zu triumphieren.“
Massive Folgeschäden verhindern
Schwerpunkt seiner Arbeit, sowohl in der Klinik als auch in der Forschung, sind chronisch entzündliche Erkrankungen, insbesondere die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. Davon sind allein in Deutschland rund 400.000 Menschen betroffen – mit steigender Tendenz. Die Patientinnen und Patienten leiden unter häufigen Durchfällen, krampfartigen Bauchschmerzen, Fieber sowie psychischen Belastungen. Bei ihnen führt eine gestörte Immunantwort zu einer chronischen Entzündung des Magen-Darm-Trakts, die in Schüben immer wieder aufflammt. Hinzu kommen langfristige Folgeschäden, etwa an den Gelenken. Bei anhaltender Entzündung vernarbt der Darm, das Risiko für Darmkrebs ist deutlich erhöht.
Die Behandlung dieser Krankheiten habe seit Beginn seiner Laufbahn gewaltige Fortschritte erzielt, sagt Schreiber. Inzwischen gibt es zielgerichtete Immuntherapien. Sie bremsen nicht mehr das gesamte Immunsystem der Patientinnen und Patienten aus, sondern nur noch die Bereiche, in denen die Fehlfunktion vorliegt. „Doch bei weniger als einem Drittel der Betroffenen können wir die Krankheit komplett stoppen“, erklärt Schreiber. „Angesichtes der massiven Folgeschäden der chronischen Entzündung ist das nach wie vor eine unbefriedigende Situation.“
Therapien individualisieren
Der Schlüssel zum Erfolg der Therapie liegt in der individuellen Betrachtung jedes einzelnen Patienten und seiner Immunreaktionen, da ist der Gastroenterologe sich sicher. Schreiber war maßgeblich an der Entdeckung genetischer Faktoren beteiligt, die bei entzündlichen Darmerkrankungen eine Rolle spielen. „Allein für Morbus Crohn kennt man inzwischen rund 160 Krankheitsauslöser, die von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich verteilt und miteinander verknüpft sind“, sagt er. „Das bedeutet, wir müssen die Therapien stärker als bisher individualisieren.“ Genau diesen Ansatz verfolgen Schreiber und sein Team im Projekt „GUIDE-IBD“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt wird.
Ziel der Forschenden ist es, die Therapie über die Ermittlung relevanter molekularer Marker im Blut individuell zu steuern. Diese Marker werden während der Behandlung engmaschig kontrolliert. So soll es bereits nach spätestens sechs Wochen Verlaufsanalyse möglich sein zu beurteilen, ob die jeweilige Therapieform bei einem bestimmten Patienten anschlägt oder nicht. „Wir ersparen den Betroffenen dadurch eine oftmals jahrelange Suche nach dem richtigen Therapieweg“, resümiert Schreiber. Wertvolle Zeit, in der die Krankheit ruht und keine Schäden mehr anrichten kann. Der Forscher rechnet damit, dass diese individuelle Therapiesteuerung und -auswahl in fünf bis zehn Jahren gängige Praxis sein wird.
Plädoyer für eine integrierte Entzündungsmedizin
Die Dringlichkeit des Themas wird in den kommenden Jahren weiter steigen. Denn chronisch entzündliche Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Colitis Ulcerosa, Rheuma, Asthma oder Multiple Sklerose – all diese Leiden werden durch den Lebensstil in modernen Industriegesellschaften begünstigt. Und all diesen Krankheiten liegen ähnliche molekulare Mechanismen zu Grunde. Zudem sind oft mehrere Organsysteme gleichzeitig betroffen. Stefan Schreiber plädiert daher für eine integrierte systemorientierte Entzündungsmedizin mit dem Ziel, diese Erkrankungen nicht nur organfixiert, sondern ganzheitlich zu verstehen und zu behandeln. Er will das Know-how aus verschiedenen Fachdisziplinen bündeln, um gerade schwerst betroffenen Patientinnen und Patienten schneller und effektiver helfen zu können. Im Exzellenz-Zentrum Entzündungsmedizin, das Schreiber koordiniert und leitet, wird dieser interdisziplinäre Austausch mit Fallkonferenzen, gemeinsamen Sprechstunden, aber auch gemeinsamer klinischer Forschung am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein bereits in die Tat umgesetzt.
Als Arzt in der Inneren Medizin hat Schreiber überwiegend mit Menschen zu tun, die krank altern. Als Forscher gilt sein Interesse auch denjenigen, die bis ins hohe Alter gesund bleiben. So zählte er zu jenem Kieler Forschungsteam, das 2009 mit der Entdeckung des so genannten Methusalem-Gens für Schlagzeilen sorgte. In Gen-Proben von mehr als 380 Hundertjährigen konnten die Forschenden nachweisen, dass diese überdurchschnittlich häufig über eine Variation des Gens „FOXO3A“ verfügen. Dieses Gen soll unter anderem die Regeneration der Stammzellen begünstigen. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ging es zunächst um den reinen Erkenntnisgewinn. In den USA werde jedoch schon nach möglichen Wirkstoffen gesucht, die dieses Gen aktivieren könnten, so Schreiber.
„Ehe mit glücklichem Verlauf“
Das Fachgebiet Gastroenterologie, das sich unter anderem mit den Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und der Leber beschäftigt, hat Stefan Schreiber eher durch Zufall gegen Ende seines Medizin-Studiums für sich entdeckt. „Es war keine Liebesheirat, aber eine Ehe mit durchaus glücklichem Verlauf“, sagt er und lacht. Eines war dem gebürtigen Berliner jedoch von Anfang an klar: „Nur als klinisch tätiger Arzt zu arbeiten, habe ich immer schon als unbefriedigend empfunden. Ich wollte forschen, um die Therapie chronischer Krankheiten voranzubringen“, sagt Schreiber. „Die Medizin ist inzwischen schon viel weiter als zu der Zeit, als ich mit der Ausbildung begann. Aber es gibt immer noch viel zu tun.“
Netzwerk für Personalisierte Medizin
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt die Arbeit von Professor Dr. Stefan Schreiber und seinem Team im Rahmen des Forschungs- und Förderkonzepts „e:Med – Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“. Die Systemmedizin gilt als Schlüssel zu einer modernen Medizin. Sie orientiert sich an der molekularen Signatur von Erkrankungen, statt an der Einteilung nach Krankheitsbildern oder spezifischen Organen festzuhalten. Sie bietet damit ein enormes Potential für die Personalisierte Medizin. Sie nutzt systemorientierte Herangehensweisen in der Forschung und in der klinischen Versorgung, um komplexe physiologische und pathologische Prozesse in ihrer Gesamtheit betrachten und somit besser verstehen zu können. Mit dem Forschungs- und Förderkonzept e:Med soll ein deutschlandweites Netzwerk der Systemmedizin etabliert werden.