Die frühzeitige Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) ist entscheidend für die erfolgreiche Behandlung. Dank Künstlicher Intelligenz hat ein BMBF-geförderter Forschungsverbund den Weg dahin verbessert.
Autismus-Spektrum-Störungen, kurz ASD für die englische Bezeichnung Autism Spectrum Disorder, sind Entwicklungsstörungen, bei denen besonders das soziale Miteinander beeinträchtigt ist. Betroffene Personen zeigen zum Beispiel Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation, der Sprache und der Mimik. Dazu kommen eingeschränkte, stereotype Verhaltensweisen. Diese Symptome können den Alltag Betroffener und ihrer Familien je nach Ausprägung mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Charakteristische Verhaltensabweichungen fallen den Eltern autistischer Kinder meist schon im Kleinkindalter auf, die tatsächliche Diagnose wird aber oft erst viel später gestellt. In besonderen Fällen können bis zu zehn Jahre vergehen, bis ASD eindeutig diagnostiziert werden kann.
„Das liegt auch daran, dass die meisten Familien schon einen regelrechten Diagnostik-Marathon hinter sich haben, bevor sie sich – meist viel zu spät – bei einer auf ASD spezialisierten Institution vorstellen“, sagt Professorin Dr. Inge Kamp-Becker. Sie leitet an der Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Spezialambulanz für ASD und koordiniert den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbund ASD-Net. Ein weiterer Grund ist der langwierige Diagnoseprozess. Er läuft in drei Stufen ab: über standardisierte Verhaltensbeobachtungen, ein spezifisches Interview mit den Angehörigen sowie eine testpsychologische, neurologische und kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung. Wichtig ist auch, das Krankheitsbild zu anderen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen abzugrenzen.
ASD-Net
Psychische Erkrankungen stellen für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine erhebliche Belastung dar. Mit dem „Forschungsnetz psychische Erkrankungen“ unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die psychiatrische Forschung in Deutschland und fördert seit 2015 neun Forschungsverbünde mit insgesamt bis zu 52 Millionen Euro. Das ASD-Net ist einer dieser neun Forschungsverbünde. Es umfasst Deutschlands führende Expertinnen und Experten sowohl in Bezug auf klinische als auch wissenschaftliche Kompetenz im Bereich ASD.
Künstliche Intelligenz verkürzt den langen Weg zur Diagnose
Kamp-Becker und ihr Team vom ASD-Net wollen diese Zeit bis zur Diagnose und damit oft auch zum Start einer Therapie verkürzen. Denn für jüngere Kinder gilt: Je eher ASD behandelt werden kann, desto erfolgreicher ist die spätere soziale Eingliederung der heranwachsenden Jugendlichen.
Dafür haben die Forscherinnen und Forscher Daten von 2.600 nach aktuellen Leitlinien einheitlich untersuchten Patientinnen und Patienten mit Methoden der Künstlichen Intelligenz und maschinellen Lernansätzen analysiert. Das Ziel: Es sollen diejenigen Verhaltensaspekte identifiziert werden, mit denen die zuverlässigsten Diagnosen gestellt werden können und schnell und zuverlässig zwischen ASD und anderen psychischen Störungen unterschieden werden kann. „Wir haben herausgefunden, dass Abweichungen beim Blickverhalten, dem sozial gerichteten mimischen Ausdruck und den sozialen Gesten wesentliche Aspekte im Verhalten bei ASD sind, und dies wollen wir nun durch objektivierbare Messmethoden untermauern“, so Kamp-Becker.
Wissenschaftlich gesicherte Behandlung
ASD ist zwar nicht heilbar, jedoch können verhaltenstherapeutische und pädagogische Behandlungsmethoden die soziokommunikativen Fähigkeiten und die Alltagsfertigkeiten verbessern und die Lebensqualität Betroffener und ihrer Familien deutlich erhöhen. Medikamente zur erfolgreichen Behandlung der Kernsymptome gibt es zwar noch nicht. Das körpereigene Hormon Oxytocin gilt jedoch als aussichtsreicher Kandidat für eine medikamentöse Therapie, da es die soziale Interaktion von Menschen mit ASD verbessern könnte. Der auch als Kuschel- oder Bindungshormon bekannte Botenstoff steigert die Aufmerksamkeit für soziale Reize und senkt das Stressempfinden. Darüber hinaus hat er positiven Einfluss auf die Empathie. Die Einnahme von Oxytocin ist relativ einfach: Es kann als Nasenspray verabreicht werden.
Im ASD-Net wird die Wirksamkeit von Oxytocin auf die sozialen Beeinträchtigungen bei ASD in zwei laufenden klinischen Studien überprüft. Es wird beispielsweise erfasst, wie autistische Erwachsene Emotionen in sozialen Situationen wahrnehmen und erleben, welche Prozesse im Gehirn dafür ausschlaggebend sind und inwiefern Oxytocin diese Faktoren beeinflusst. In einer großen Interventionsstudie wird getestet, ob die Wirksamkeit eines Sozialkompetenztrainings in der Gruppe noch gesteigert werden kann, wenn die jugendlichen Teilnehmenden jeweils vor den Gruppenstunden Nasenspray mit Oxytocin einnehmen. Bildgebende Verfahren, zum Beispiel die Magnetresonanztomographie, werden genutzt, um potenzielle Veränderungen der Gehirnaktivierung vor und nach dem Training zu untersuchen. Zusätzlich wird nach neurobiologischen Markern für den Behandlungserfolg gesucht, um möglicherweise eine Vorhersage darüber treffen zu können, welche Teilnehmenden von der Kombination Training und Oxytocin besonders gut profitieren werden. Die Studien werden zurzeit ausgewertet. Ergebnisse werden im Laufe des Jahres erwartet.
„Sollte sich Oxytocin als wirksam erweisen, könnte es die Therapien unterstützen. Das hätte auf jeden Fall einen positiven Effekt auf die Behandlung von ASD“, so Kamp-Becker.
Originalpublikationen:
Kamp-Becker I, Poustka L, Bachmann C, et al. Study Protocol of the ASD-Net, the German research Consortium for study of Autism Spectrum Disorder across the lifespan: from a better etiological understanding, through valid diagnosis, to more effective health care. BMC Psychiatry. 2017 June 2; 17: 206-220 doi: 10.1186/s12888-017-1362-7.
Küpper C, Stroth S, Wolff N, et al. Identifying predictive features of autism spectrum disorders in a clinical sample of adolescents and adults using machine learning. Sci Rep. 2020 March 18; 10, 4805 doi: 10.1038/s41598-020-61607-w.
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Inge Kamp-Becker
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Hans-Sachs-Straße 4
35039 Marburg
kampbeck@med.uni-marburg.de