Baukasten für die Kinderseele - Neues Hilfsangebot für Kinder psychisch kranker Eltern

Wenn Mama oder Papa psychisch krank ist, stehen die Kinder meist sehr früh in der Verantwortung. Während andere Kinder spielen, übernehmen sie oftmals die Aufgaben ihrer Eltern. Eine belastende Situation, die nicht selten dazu führt, dass Kinder selbst psychisch erkranken oder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln. Um dies zu verhindern, bietet nun ein Modellprojekt in Bielefeld/Bethel den Kindern gemeinsam mit ihren Eltern frühzeitig Unterstützung und Hilfe an.

Wie viele Kinder in Deutschland mit einem psychisch kranken Elternteil zusammenleben, ist nicht eindeutig bekannt. Schätzungen zufolge sind es mehr als eine Million. „Diese Kinder sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Viele übernehmen sehr früh Verantwortung. Sie kochen, räumen auf oder kümmern sich um ihre jüngeren Geschwister“, beschreibt Prof. Dr. Ullrich Bauer, Soziologe, Präventionsforscher und Leiter der Arbeitsgruppe Sozialisationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil leiden nicht nur unter der Krankheit ihrer Eltern. Die belastende Lebenssituation wirkt sich langfristig auf ihre Entwicklung und das weitere Leben aus. So haben Kinder psychisch kranker Eltern ein besonders hohes Risiko, selbst eine psychische Störung oder eine Verhaltensauffälligkeit zu entwickeln. „Fast die Hälfte aller Kinder, die in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen aufgenommen wird, hat einen Elternteil mit einer psychischen Erkrankung“, sagt Professor Bauer und sieht deshalb einen besonderen Bedarf, Kinder dieser hoch belasteten Risikogruppe mit Hilfsangeboten zu unterstützen. Kinder mit einer depressiven Mutter oder einem depressiven Vater haben beispielsweise im Vergleich zu Kindern psychisch gesunder Eltern ein dreifach erhöhtes Risiko, auch eine Depression zu entwickeln. Leiden beide Elternteile an einer Depression, erhöht sich dieses Risiko sogar auf 70 Prozent. Professor Bauer: „Um dies zu verhindern, brauchen die Kinder frühzeitig eine passgenaue Unterstützung! Hier setzt unser neu entwickeltes Präventionsprojekt ‚Kanu – Gemeinsam weiterkommen‘ an.“

Das Kanu-Projekt ist ein Angebot für Familien mit Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren, bei denen ein Elternteil an Depression oder Schizophrenie erkrankt ist. Die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Kanu-Projektes wird vom Bundesministerium für Bildung- und Forschung (BMBF) im Rahmen der Präventionsforschung gefördert. Bevor das Kanu-Vorhaben an den Start gehen konnte, war eine Phase der Grundlagenforschung notwendig, die ebenfalls durch das BMBF gefördert wurde. Kanu unterstützt jetzt betroffene Familien bei der Bewältigung ihrer schwierigen Situation und wird derzeit in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld/Bethel erprobt und evaluiert.

Individuelle Bausteine je nach Bedarf

Das Kanu-Projekt funktioniert wie ein Baukasten: Es besteht aus verschiedenen Angeboten, die wie Bausteine individuell zusammengestellt werden können – je nachdem welche Unterstützung eine Familie benötigt. So umfasst der erste Baustein Eltern-, Kind- und Familiengespräche. „Wir sprechen mit den Kindern allein, mit den Eltern allein und auch gemeinsam mit der gesamten Familie“, beschreibt der Leiter des Kanu-Projektes. Dabei geht es vor allem darum, welche Auswirkungen die psychische Erkrankung auf die Familie und besonders auf die Kinder hat. „Wir besprechen mit der Familie was gut läuft und wo sie vielleicht noch Unterstützung benötigt und bekommen kann.“ Dies ist der einzige Baustein im Kanu-Projekt, an dem alle Familien teilnehmen.

Der zweite Baustein ist ein Elterntraining. „Hier haben die Eltern die Möglichkeit, sich mit anderen Eltern auszutauschen. Denn Eltern mit einer psychischen Erkrankung machen sich häufig besonders viele Gedanken um die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder. Dabei entstehen nicht selten Zweifel und Unsicherheiten im Umgang mit den Kindern“, so Professor Bauer. Ziel des Elterntrainings ist es, die Kommunikations- und Konfliktfähigkeit der Eltern zu verbessern und zu fördern, sodass sie ihre elterliche Rolle aktiv übernehmen.

Zeit zum Kindsein

Im dritten Baustein von Kanu dreht sich alles um die Kinder. In speziellen Kindergruppen geht es darum, dass die Kinder etwas über psychische Erkrankungen und den Umgang mit Gefühlen lernen. „Die Gruppe bietet viel Zeit zum Kindsein – denn genau das kommt bei diesen Kindern oftmals zu kurz. Die Kinder bekommen auch Hilfestellungen, wie sie am besten mit Belastungs- und Krisensituationen umgehen können“, erklärt Bauer.

Ein weiterer wichtiger Baustein im Kanu-Präventionsprogramm sind Patenschaften für die Kinder, die bei Bedarf in Kooperation mit dem Bielefelder Kinderschutzbund und dem Jugendamt der Stadt Bielefeld eingerichtet werden. „Bei einer Patenschaft unternehmen die ehrenamtlichen Paten meist einmal pro Woche etwas mit dem Kind und betreuen es in einigen Fällen sogar, wenn die Mutter oder der Vater für eine gewisse Zeit ins Krankenhaus muss“, beschreibt Professor Bauer. Damit steht den Kindern kontinuierlich eine erwachsene Bezugsperson außerhalb der Familie zur Seite, die ihnen Normalität und Orientierung vermittelt. Eine Patenschaft kann jedoch nur wenigen Familien angeboten werden, die diese besondere Unterstützung benötigen. „Im letzten Jahr konnten wir bereits drei Patenschaften in die Wege leiten. Eine weitere bereiten wir gerade vor“, so der Projektleiter.

Insgesamt wird das Projekt Kanu im Raum Bielefeld bereits von vielen Familien in Anspruch genommen. „Sowohl von den Eltern als auch von den Kindern haben wir bislang sehr positive Rückmeldungen bekommen“, sagt Professor Bauer. Bis zum Jahr 2011 werden nun bei rund 100 Familien Erfahrungen mit dem Projekt gesammelt. Die Ergebnisse werden wissenschaftlich ausgewertet und mit einer Kontrollgruppe verglichen. „Wir hoffen, dass unser Kanu-Projekt Kinder gezielt vor psychischen Erkrankungen bewahren und ihre Familien ein Stück weit bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützen kann.“ Hat das Kanu-Präventionsprojekt weiterhin Erfolg, könnten dieses oder ähnliche Programme für Kinder psychisch kranker Eltern deutschlandweit zum Einsatz kommen. „Denn bislang gibt es keine speziellen Angebote für diese Zielgruppe, die wissenschaftlich gesichert sind“, so Professor Bauer.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Ullrich Bauer
Fakultät für Bildungswissenschaften
AG Sozialisationsforschung
Universität Duisburg-Essen
Berliner Platz 6–8
45127 Essen
Tel.: 0201 183–4956
Fax: 0201 183–2303
E-Mail: ullrich.bauer@uni-due.de