Jedes Jahr nehmen sich etwa 10.000 Menschen in Deutschland das Leben. Auch für junge Frauen kann ein Selbstmord der scheinbar einzige Ausweg aus ihren Problemen sein. Bei jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund ist die Selbstmordrate fast doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Frauen aus deutschen Familien. Nicht selten sind soziale und kulturelle Konflikte oder Identitätsprobleme der Auslöser. Ein Berliner Wissenschaftlerteam möchte nun junge türkische Migrantinnen mit Selbstmordgedanken bei der Bewältigung ihrer Krisensituationen unterstützen.
Schwerpunkt des Präventionsangebots ist eine neu eingerichtete deutsch-türkische Telefonhotline. Hat das Konzept Erfolg, soll es Vorbild für weitere Hilfsangebote sein.
Junge türkischstämmige Mädchen und Frauen in Deutschland nehmen sich überdurchschnittlich oft das Leben. „Bei jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund ist die Häufigkeit von vollendeten Selbstmorden fast doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Frauen aus deutschen Familien“, erklärt Dr. Meryam Schouler-Ocak, Leiterin der Arbeitsgruppe Migrations- und Versorgungsforschung, Sozialpsychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte (CCM) und der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin. Dies ist eine besorgniserregende Statistik, und die Gründe hierfür sind vielschichtig. Das zeigen Befragungen, in denen türkische Frauen in Berlin über die Gründe für ihre Selbstmordgedanken gesprochen haben: Die jungen Frauen leiden oftmals unter Verboten sund Einschränkungen. Sie fühlen sich von ihren Familien unter Druck gesetzt, sich der türkischen Kultur anpassen zu müssen. „Nicht selten berichten die jungen Frauen über Identitätsprobleme. Sie fühlen sich weder der deutschen noch der türkischen Kultur richtig zugehörig“, beschreibt Dr. Schouler-Ocak, die selbst einen türkischen Migrationshintergrund hat. „Auch in der heutigen Zeit gibt es durchaus noch Fälle von Zwangsverheiratungen, oder es entstehen Familienkonflikte, wenn eine Frau nicht als Jungfrau in die Ehe gehen kann.“ Auch gibt es in vielen türkischen Familien die Tendenz, Probleme in der Familie lösen zu wollen und nicht nach außen zu tragen. „Wenn die jungen Frauen mit niemandem sprechen und keine Hilfe erhalten, können derartige Konflikte zu scheinbar ausweglosen Situationen werden“, beschreibt Dr. Schouler-Ocak die Entstehung von Selbstmordgedanken. Umso wichtiger ist es, genau diese jungen Frauen mit speziellen Hilfsangeboten, die auf ihre sozialen und kulturellen Konflikte ausgelegt sind, zu erreichen.
„Hayatına değil suskunluğuna son ver – Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben“: Unter diesem Motto startete deshalb im Juni 2010 eine Aufklärungskampagne in Berlin und zeitgleich ein – in Deutschland einmaliges – deutsch-türkisches Krisentelefon. Die Kampagne (Projektleiter: Prof. Dr. Andreas Heinz) und das neue Hilfsangebot sind Teil einer groß angelegten Studie zur Vermeidung von Suiziden bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, die von Dr. Schouler- Ocak geleitet und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. „Im Internet, im Radio und auf zahlreichen Plakaten in ganz Berlin machen wir auf unsere Telefonhotline aufmerksam“, sagt Dr. Schouler-Ocak. „Das Krisentelefon ist ein kostenloses Beratungsangebot für Frauen und Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund in Berlin, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden und nicht mehr weiter wissen. Oder für Frauen, die Angst um ihre Freundin haben.“ Hier werden die jungen Frauen anonym von kompetenten Expertinnen auf Deutsch oder Türkisch beraten. „Denn wir müssen handeln und Hilfe anbieten, ehe es zu spät ist“, betont Dr. Schouler-Ocak. Die Hotline wurde bisher vorwiegend von Frauen in Anspruch genommen, die an erster Stelle über familiäre Konflikt- und Krisen -situation berichteten. Neben einer telefonischen Beratung erfolgte auch eine unmittelbare Hilfestellung. Zudem werden im Rahmen der Präventionsstudie Schulungen, etwa für Psychologen, Ärzte, Lehrer und Mitarbeiter von Beratungsstellen und Jugendämtern, angeboten. „Gerade diese Berufsgruppen haben regelmäßig mit unserer Zielgruppe Kontakt und sollten über die Probleme und Konflikte der jungen Frauen informiert sein.“
Ziel der Kampagne ist es, Selbstmorde bei jungen türkischstämmigen Frauen zu verhindern und auch die Allgemeinbevölkerung für die Themen Suizid und kulturelle Konflikte zu sensibilisieren. „Wir erhoffen uns, dass die Initiative dazu beiträgt, dass türkische Frauen häufiger die Angebote des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen“, so die Expertin. Die Aufklärungskampagne ist auf sechs Monate bis Ende des Jahres angelegt, das Krisentelefon steht zunächst für neun Monate bis zum Frühjahr 2011 zur Verfügung. Danach werten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Erfahrungen aus. Ob die Aktion nachhaltigen Erfolg hatte, sollen abschließende Befragungen von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund zeigen. Befragt werden sollen Frauen aus Berlin, wo das Projekt zurzeit läuft, und Hamburg, wo es keine vergleichbare Aufklärungskampagne gibt. „Dann könnte unser Präventionskonzept quasi Vorbild für weitere Hilfsangebote sein und auf andere Regionen und Zielgruppen erweitert werden“, sagt Dr. Schouler-Ocak.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert in seinem Schwerpunkt Präventionsforschung die Forschung zur primären Prävention und Gesundheitsförderung. In den Projekten werden unter anderem neue Konzepte und Programme zur Prävention von Krankheiten entwickelt und erprobt. Darüber hinaus werden die Qualität und Wirkungsweise von bestehenden Präventionsmaßnahmen untersucht. Seit 2004 unterstützt das BMBF Vorhaben im Bereich der Präventionsforschung mit insgesamt mehr als 20 Millionen Euro. Zunächst lag der Schwerpunkt der BMBF-Förderung auf Präventionsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene im mittleren Lebensalter. Die zweite Förderbekanntmachung bezog sich ausschließlich auf Kinder und Jugendliche zwischen drei und 25 Jahren. Die im Jahr 2006 veröffentlichte dritte Bekanntmachung gilt der Zielgruppe der älteren Menschen ab 50 Jahren. Die vierte Bekanntmachung, die sich explizit auf die Zielgruppe „Menschen in schwierigen sozialen Lagen“ ausrichtet, erschien im Juli 2007.
Der Berliner Krisendienst ist unter 030-390 63 10, Dienstags von 9 bis 16 Uhr zu erreichen.
Eine Beratung in türkischer Sprache ist möglich. Weitere Informationen gibt es auch im Internet unter www.beende-dein-schweigen.de oder www.suskunlugunasonver.de.
Ansprechpartnerin:
Dr. Meryam Schouler-Ocak
AG Migrations- und Versorgungsforschung, Sozialpsychiatrie Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
Große Hamburger Straße 5-11
10115 Berlin
Tel.: 04930 2311-2786
Fax: 04930 2311-2787
E-Mail: meryam.schouler-ocak@charite.de