Welches Potenzial hat die Künstliche Intelligenz (KI) im Bereich der 3R-Forschung? Diese Frage wurde unter anderem beim Auftakt der virtuellen Veranstaltungsreihe „3R - Insights aus dem Labor“ des Bundesnetzwerks 3R diskutiert.
Mehr als 300 Teilnehmende hatten sich für die digitale Veranstaltung „Wissenschaft am Computer – wie KI die Umsetzung der 3R unterstützt“ angemeldet und folgten einem Programm aus Projektvorstellungen von geförderten Projekten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und einer abschließenden Podiumsdiskussion, die die entscheidende Wirkungsfähigkeit der KI im Bereich der 3R-Forschung zeigten.
Die erste Veranstaltung der virtuellen Reihe wurde von Dr. Maria Schneider, Referentin im Referat 617 – Neue Methoden in den Lebenswissenschaften; Biotechnologie; Wirkstoffforschung im BMBF – eröffnet. Sie betonte die Wichtigkeit der KI in der 3R-Forschung. Von den 80 Projekten in der laufenden BMBF-Förderung „Alternativmethoden zum Tierversuch“ haben insgesamt 21 einen klaren bioinformatischen Bezug. Der Trend zu einer verstärkten Nutzung der KI im Bereich der Alternativmethoden ist spürbar. Einen Überblick zu den Begrifflichkeiten und aktuellen Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz wurde zu Beginn durch die Moderation Stefanie Demirci gegeben.
Insights – Einblick in die Möglichkeiten der KI für die 3R-Forschung
In den nachfolgenden Insights erhielten die Teilnehmenden einen Einblick in verschiedene BMBF-geförderte Vorhaben mit KI-Schwerpunkt. Prof. Dr. Thomas Dandekar von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg berichtete von KI-basierten Verfahren, wie machine learning und knowledge engineering. Das Maschinen-Lernen kann schon mit relativ wenigen Daten arbeiten. Es erlaubt auch Tierexperimente ganz zu ersetzen, wenn man sich auf diagnostische Signaturen verlegt. Beim knowledge engineering überträgt man das Fachwissen der Expertinnen und Experten in ein Format, dass die KI in die Lage versetzt zu den gleichen oder besseren Schlussfolgerungen zu gelangen. Prof. Dr. Thomas Dandekar hat hierfür ein sogenanntes Boolesches Netzwerk genutzt, welches die Möglichkeit bietet, komplexe Signalwege zu modellieren. Obwohl diese eine grobe Vereinfachung der Realität darstellen, eröffnen sie vielfältige Möglichkeiten zur Vorhersage von Wirkungsmechanismen für Wirkstoffe.
Prof. Dr. Wolfgang Boomgaarden entwickelt mit seinem Biotech-Unternehmen PharmaInformatic KI-basierte Programme, auch Expertensysteme genannt, die anhand der chemischen Struktur von Wirkstoffen unter anderem ihre Konzentration im Blut nach einer oralen Einnahme, die sogenannte orale Bioverfügbarkeit, vorhersagen können. Dies ist einer von mehreren Parametern, welche im Rahmen der Identifikation pharmakokinetischer Profile von Wirkstoffen untersucht wird.
Bei der Pharmakokinetik werden Effekte ermittelt, denen ein Wirkstoff im Organismus unterliegt, also wie dieser aufgenommen, verteilt, verstoffwechselt und schlussendlich ausgeschieden wird. Dies sind wichtige Messgrößen, die im Zuge der Medikamentenentwicklung durch Tierversuche routinemäßig bestimmt werden, um dadurch das Wirkstoffprofil im Menschen abzuschätzen. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass große Unterschiede bei der Wirkstoffaufnahme zwischen Mensch und Tier bestehen und somit viele Tierversuche nicht eindeutig aufzeigen können, ob Therapeutika im Menschen wirksam und verträglich aufgenommen werden. Die Expertensysteme könnten somit bestenfalls zukünftig Tierversuche ersetzen.
Prof. Dr. York Winter von der Humboldt-Universität zu Berlin stellte verschiedene Softwaretechnologien aus dem Bereich Deep Learning vor, die aus komplexen Sensordaten individuelle, phänotypische Parameter für Kleintierverhalten ableiten können. Darüber hinaus soll eine automatisierte 24-Stunden-Überwachung integriert werden. Ziel ist es, die diagnostische Sensitivität der Verhaltensexperimente zu erhöhen, sodass sich mit einer geringeren Tierzahl aussagekräftigere Daten gewinnen lassen.
Das Projekt ICARAS unter der federführenden Leitung von Dr. Elisa Anamaria Liehn wurde an der RWTH Aachen umgesetzt. Es verfolgte das Ziel, Tierversuche in der Aus- und Weiterbildung durch eine optimierte Vorbereitung, Präsenzlehre und Nachbereitung und dem Einsatz von Augmented-Reality-Mikroskopie zu reduzieren und zu verfeinern. Hierfür wurde eine Software zur Live-Übertragung von 3D-Mikroskopie-Aufnahmen auf Endgeräte der Seminarteilnehmenden, wie Smartphones, Tablets, 3D-Monitore entwickelt. Der weltweite Ausbau der Software zum Tele-Monitoring wird angestrebt, um den Nutzen der Software für jede Forschungseinrichtung zu ermöglichen.
KI – vielschichtiges Potenzial mit Herausforderungen
In der im Anschluss stattfindenden Paneldiskussion wurde mit den Vortragenden der Insights und Industrievertretern über die Chancen und Risiken des Einsatzes von KI in der 3R-Forschung diskutiert.
Mirko Lampe, IIoT-Guidance GmbH, und Dr. Joachim Coenen, Merck KGaA, betonten die Relevanz der Datenverfügbarkeit, die zwingend weiter ausgebaut werden muss. Das iMouse-Projekt von IIoT-Guidance GmbH, ermöglicht anhand von Hard- und Softwareerweiterungen um bestehende Versuchskäfige eine 24/7 Beobachtung und Kontrolle der Versuchstiere. Die erfassten Daten können in Echtzeit eingesehen und digital weitergeleitet und aufgezeichnet werden. Übergeordnetes Ziel ist es, die Teilung von Datensätzen in einem größeren Forschungsfeld zugänglich zu machen. Wichtig sei hier vor allem der Datenanalyst, der als wichtigstes Bindeglied zwischen Wissenschaft und Technologie agiert, so Mirko Lampe. Die Interpretation von digitalen Daten können nicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler getragen werden.
Der größte Bedarf für den Einsatz von KI-basierter Technologie wird in der Zukunft in der Angewandten Forschung sein, betonte Prof. Dr. Dandekar, da es hier eine enorme Datenflut gibt. Eine große Herausforderung wird die Datenannotation sein, da konsequent nachverfolgt werden muss unter welchen Bedingungen die Daten gewonnen wurden. Wenn die Datenannotation vorliegt, können die Daten aus der Anwendung eingesetzt und auch von der KI richtig interpretiert werden.
Dr. Elisa Anamaria Liehn, die als Kardiologin tätig ist, berichtete von ihren Erfahrungen im Bereich der interdisziplinären Zusammenarbeit in Dänemark. Die Tendenz zum Datenaustausch ist in Dänemark – im Vergleich zu Deutschland – einfacher, da Patientinnen- und Patientendaten digitalisiert und zentralisiert aufbereitet sind. Die Akzeptanz für die Verarbeitung von klinischen und molekularen Daten im Rahmen von Forschungszwecken ist in der dänischen Forschungslandschaft höher im Vergleich zu Deutschland. Darüber hinaus habe die Corona-Pandemie den Einsatz von KI-basierter Technologie in der Medizin noch mehr forciert.
Dr. Joachim Coenen betonte, dass ein vollkommener Ersatz von Tierversuchen nur möglich sei, wenn alle Stakeholder wie Forschende, Zulassungsbehörden, Politik, Industrie und Öffentlichkeit eng zusammenarbeiteten und Entscheidungen gemeinsam getroffen und getragen würden.
Insgesamt hat die Diskussionsrunde gezeigt, dass KI in allen Aspekten der 3R-Forschung relevant sein kann und somit sowohl kurz- als auch langfristig dazu beitragen wird das Tierwohl zu schützen und Tierversuche zu reduzieren. Dabei betonten alle Vortragenden, dass KI als innovatives und zukunftsweisendes Tool in den Lebenswissenschaften und der 3R-Forschung nur dann effektiv zum Einsatz kommen kann, wenn entsprechende Infrastrukturen ausgebaut und gewährleistet werden. Entscheidend seien dabei auch öffentlich zugängliche, kuratierte Wissensdatenbanken, die einen wichtigen und langfristigen Beitrag leisten. Der verantwortungsvolle Umgang mit datenschutzrechtlichen Belangen darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden.
Zum Abschluss der Veranstaltung stimmten alle Teilnehmenden zu, dass KI eine hilfreiche Erweiterung, Ergänzung und Unterstützung ist, um die 3R bestmöglich einzuhalten und umzusetzen.
Am 15. September 2022 findet die zweite digitale Veranstaltung unter dem Titel „Auf dem Weg in die Anwendung – Berichte aus der 3R-Forschung“ statt. Weitere Informationen erhalten Sie hier.