Nach einer SARS-CoV-2-Infektion sind vor allem Männer von lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen betroffen. Forschende im NATON-Netzwerk haben die Ursache dafür gefunden: Es ist die übermäßige Aktivierung eines Gens aus dem Testosteronstoffwechsel.
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 sind laut der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit über sieben Millionen Menschen an der Virusinfektion gestorben, allein in Deutschland waren es bislang 175.000. Die Auswertung der möglichen Risikofaktoren hat gezeigt, dass ein hohes Alter, Stoffwechselerkrankungen oder auch starkes Übergewicht eine wichtige Rolle spielen, wie schwer die Erkrankung verläuft. Besonders auffällig aber ist, dass vor allem Männer gefährdet sind, schwer zu erkranken und an den Folgen zu sterben; so sind drei Viertel aller Intensivpatienten Männer. „Die Ursache dafür war unbekannt, und da es sich um einen geschlechterspezifischen Unterschied handelt, haben wir uns viel davon versprochen, in genetischen Daten nach Hinweisen zu suchen“, berichtet Professorin Dr. Gülsah Gabriel, Virologin am Leibniz-Institut für Virologie in Hamburg und der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Sie leitete eine Studie im Rahmen des Nationalen Obduktionsnetzwerks (NATON) im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Netzwerk Universitätsmedizin (NUM).
Erstmals Ursache für schwere Krankheitsverläufe bei Männern identifiziert
Das Team um Gabriel fand heraus, dass das Virus bei Männern, die schwer erkranken, zu einer übermäßigen Aktivierung des Gens CYP19A1 führen kann und so die verstärkte Produktion eines Enzyms aus dem Testosteronstoffwechsel verursacht. Dadurch verändert sich der Stoffwechsel der Betroffenen vor allem im Lungengewebe so stark, dass eine Erkrankung besonders schwer und häufig sogar tödlich verläuft. „Weltweit sind wir die Ersten, die mit dem Gen CYP19A1 die Ursache dafür identifiziert haben, warum Männer ein höheres Risiko tragen, schwer an COVID-19 zu erkranken“, stellt Gabriel fest.
Wirksame Therapie mit handelsüblichem Wirkstoff möglich
Die Forschungsgruppe leitete aus diesem Befund auch eine mögliche Therapie ab. „CYP19A1 ist für die Produktion von bestimmten Enzymen verantwortlich, den sogenannten Aromatasen. Auf dem Markt gibt es bereits einen eingeführten Aromatase-Hemmer – das Letrozol. Wir haben also SARS-CoV-2-infizierte Hamster mit schweren Krankheitssymptomen mit Letrozol behandelt“, erklärt Gabriel das Vorgehen.
Das Ergebnis dieser Untersuchung im Tiermodell: Die Lungenfunktion der männlichen Tiere verbesserte sich nachhaltig, und auch das hormonelle Gleichgewicht normalisierte sich. Bei den weiblichen Tieren zeigten sich dagegen keine Verbesserungen. Gabriel schließt daraus: „Aromatase-Hemmer könnten eine vielversprechende therapeutische Strategie für die individuelle Behandlung männlicher COVID-19-Patienten sein.“ Zurzeit ist Gabriel im Gespräch mit Industrievertretern einerseits und Kliniken andererseits, um den neuen therapeutischen Ansatz in männlichen Patienten zu prüfen.
NATON – Nationales Obduktionsnetzwerk
Obduktionen, also die Untersuchungen verstorbener Menschen, tragen ganz wesentlich dazu bei, die Auswirkungen von Infektionskrankheiten auf die Körperfunktionen besser zu verstehen. Das Nationale Obduktionsnetzwerk (NATON) wurde 2022 gegründet und bündelt die Kompetenzen universitärer und außeruniversitärer Spezialistinnen und Spezialisten in Deutschland, die sich mit Obduktionen und der Analyse von Proben Verstorbener beschäftigen. Ziel ist, eine Service-, Experten- und Entwicklungsplattform für eine vernetzte Obduktionsforschung bereitzustellen. Zudem soll sie den Informationsaustausch insbesondere mit dem öffentlichen Gesundheitswesen ermöglichen. NATON ist ein Teilprojekt des bundesweit agierenden Netzwerks Universitätsmedizin (NUM), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit insgesamt 390 Millionen Euro gefördert wird.
Kooperation in NATON wichtig für den Erfolg
„All das ist gelungen, weil wir auf den unterschiedlichen Ebenen eng vernetzt gearbeitet haben“, betont Gabriel. So bestand die Forschungsgruppe aus national und international tätigen Spezialistinnen und Spezialisten ganz unterschiedlicher Fachgebiete wie Virologie, Pathologie, Intensivmedizin, Genetik, Veterinärmedizin und dem Hochleistungsrechnen. Insgesamt 57 Autorinnen und Autoren waren an der Veröffentlichung der Studienergebnisse im Wissenschaftsjournal Cell beteiligt.
Sie alle ermöglichten, dass die genetischen Daten von insgesamt 2.866 Patientinnen und Patienten aus Kliniken in Hamburg, Tübingen und Rotterdam mithilfe von computergestützten Verfahren ausgewertet werden konnten. Maßgeblich für den Erfolg war zudem, dass Gewebeproben von SARS-CoV-2-Verstorbenen untersucht werden konnten, insgesamt 86 Männern und Frauen. Nur so konnten die Forschenden feststellen, dass schwer erkrankte Männer und eben nicht Frauen in ihrem Lungengewebe besonders viele Zellen mit aktivierten CYP19A1-Genen aufwiesen. „Nur über die Zusammenarbeit bei NATON hatten wir Zugang zu den Gewebeproben und damit die Möglichkeit, die entscheidenden Nachweise zu finden“, betont Gabriel.
Atemwegsinfektionen beeinflussen gesamten Körperstoffwechsel
Die Ergebnisse sind für die Virologin aber nicht nur wichtig, weil nun Männer gezielter behandelt werden können, die schwer an SARS-CoV-2 erkrankt sind. Bei der Untersuchung des Lungengewebes von Verstorbenen hatte sich auch gezeigt, dass die Überaktivierung des Gens zum Todeszeitpunkt offenbar noch bestand, obwohl das Virus schon nicht mehr in der Lunge aktiv war. Gabriel erklärt: „Zum ersten Mal zeigt eine Studie, dass eine akute Infektion der Atemwege den gesamten Stoffwechsel, hier den Geschlechtshormonhaushalt, beeinflussen kann – und dies auch, wenn das Virus nicht mehr aktiv ist“. Welche langfristigen Konsequenzen das haben könnte, untersucht die Wissenschaftlerin in ihren aktuellen Arbeiten.
Originalpublikation:
Stanelle-Bertram, S., Beck, S., Mounogou, N. K., Schaumburg, B., Stoll, F., Al Jawazneh, A., et al. (2023). CYP19A1 mediates severe SARS-CoV-2 disease outcome in males. Cell Reports Medicine.
DOI: 10.1016/j.xcrm.2023.101152
Ansprechpartnerin:
Dr. rer. nat. Kristina Allgoewer-Martin, MPH
Projektmanagerin Forschungsprojekte/
Nationales Obduktionsnetzwerk (NATON)
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Butenfeld 34 (N81, EG 30)
22529 Hamburg
k.allgoewer-martin@uke.de