Einem Hindernis ausweichen oder einen Gegenstand ergreifen – das gelingt uns mühelos und ganz selbstverständlich. Doch hinter all unseren Bewegungs- und Entscheidungsabläufen stecken komplizierte neuronale Vorgänge. Die sollen der Robotik als Vorbild dienen.
Viel Mathematik: Abläufe im Gehirn werden in Formeln gefasst, die man im Computer simulieren und überprüfen kann.Stellen wir uns vor, es ist Sonntagabend, 18 Uhr. Sie sitzen auf dem Sofa und lesen Zeitung. Es klingelt an der Tür. Wer mag das wohl sein? Sie stehen auf, gehen zur Haustür, greifen die Klinke und öffnen die Tür. Scheinbar mühelos. Doch bis Sie endlich wissen, wer vor der Tür steht, sind bereits zahlreiche komplizierte neuronale Prozesse sowohl in Ihrem Gehirn als auch in Ihrem übrigen Nervensystem abgelaufen. Denn Sie müssen Ihre Umgebung wahrnehmen, also erkennen, „es klingelt“, Sie müssen sich entscheiden aufzustehen, Ihre Bewegung bis zur Tür planen und diese schließlich ausführen.
„Immer häufiger möchten wir, dass Roboter bestimmte Bewegungen für uns ausführen oder auch Entscheidungen für uns treffen. Ein Beispiel hierfür sind Fahrassistenzsysteme im Auto, etwa ein Parkassistent, der selbstständig einen geeigneten Parkplatz findet und einparkt“, erklärt Professor Dr. Gregor Schöner. Als Professor für Neuroinformatik an der Ruhr-Universität Bochum entwickelt er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen und mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) mathematische Modelle menschlicher Bewegungs- und Entscheidungsabläufe. Ziel ist, diese Modelle zu nutzen, um damit in künstlichen Systemen Bewegung zu erzeugen – beispielsweise in einem intelligenten Roboterarm – oder auch das Verhalten des Menschen zu simulieren – beispielsweise für ein Fahrassistenz-System.
Mathematik beschreibt neuronale Netzwerke
Doch um mathematische Modelle für menschliches Verhalten zu entwickeln, müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse im menschlichen Körper verstehen. Jede Bewegung hat ihren Ursprung in unseren Nervenzellen. Jede Nervenzelle – sowohl im Gehirn und Rückenmark, dem zentralen Nervensystem, als auch außerhalb dieser Organe, im peripheren Nervensystem – ist mit umliegenden Nervenzellen zu einer Gruppe verknüpft. Jede Gruppe von Nervenzellen erfüllt spezifische Aufgaben. Diese Gruppen arbeiten wiederum in größeren neuronalen Netzwerken zusammen. Planen wir eine Bewegung, sind andere Gruppen von Nervenzellen aktiv, als wenn wir tatsächlich eine bestimmte Bewegung ausüben. Diese äußerst komplexen und dynamischen Netzwerke können Neuroinformatiker mithilfe von mathematischen Differenzialgleichungen beschreiben. „Das Besondere an unserem Projekt ist“, betont Schöner, „dass wir verschiedene mathematische Modelle zusammenfügen. Denn wir wollen den gesamten Ablauf zielgerichteter Bewegungen simulieren – von der Wahrnehmung einer Situation über die Planung einer Handlung bis hin zur eigentlichen Erzeugung der Bewegung.“ Ihre mathematischen Modelle nutzen die Forscher derzeit, um menschliches Handeln auf neuronaler Ebene zu simulieren und Roboter autonom Bewegungen erzeugen zu lassen.
Roboter reagiert spontan auf Situationen
„Zum Beispiel arbeiten wir an einem Roboterarm, der über eine Kamera seine Umgebung erfasst. Nicht die ‚Hardware‘, also der Arm selbst, ist das Besondere an diesem System, sondern die ‚Software‘, also die mathematischen Algorithmen, mit denen der Roboterarm programmiert wurde“, erklärt Schöner. „Alles, was der Roboterarm wahrnimmt und wie er handelt, beruht auf Modellen menschlichen Bewegungsverhaltens. Mittlerweile kann das Gesamtsystem Objekte erkennen, eine zielgerichtete Bewegung zum Objekt planen, auslösen und es schließlich ergreifen“, beschreibt Schöner. Dabei wird der Roboter kontinuierlich mit visuellen Informationen der Kamera versorgt, aber auch mit Sensordaten aus dem Arm selbst, die etwa Gelenkpositionen und Geschwindigkeiten rückmelden. „So kann unser Roboter durch ein ‚Online-Updating‘ jederzeit auf Änderungen in der Situation reagieren, so wie wir Menschen es spontan tun. Langfristig“, hofft Schöner, „könnten die Ergebnisse unseres Forschungsverbundes neue Akzente in der Neuroprothetik setzen − also für die Konstruktion intelligenter Prothesen − und auch dazu beitragen, die Mensch- Maschine-Interaktion zu verbessern.“
Virtuelle Realität im Fahrsimulator
Auch zur Entwicklung intelligenter Fahrassistenzsysteme können die mathematischen Modelle beitragen: „Zusammen mit unserem Partner, der NISYS GmbH, entwickeln wir gerade einen Fahrsimulator, in dem Fahrzeuge autonom, also ohne menschliches Zutun, so fahren können, dass ihr Fahrverhalten menschlichem Verhalten sehr ähnlich ist“, erklärt Schöner. Mit diesem Simulator möchten die Wissenschaftler zukünftig Fahrassistenzsysteme unter realistischen Bedingungen erproben – ganz ohne aufwendige Feldversuche mit echten Fahrzeugen und Fahrern. „Denn in unserem Simulator ist uns die Welt ja bis ins Detail bekannt. So können wir prüfen, ob das Fahrassistenzsystem die Welt richtig erfasst und richtig reagiert hat“, beschreibt Schöner.
Kann unser menschliches Handeln also auf Mathematik reduziert werden? Schöner: „Nein, menschliches Handeln ist natürlich viel reichhaltiger, flexibler, subtiler, als unsere Modelle es wiedergeben. Dennoch versuchen wir, möglichst gute mathematische Modelle für menschliche Bewegungsabläufe zu entwickeln, um in künstlichen Systemen möglichst menschenähnliche Bewegungen erzeugen zu können. Dabei lernen wir auch sehr viel über die Eigenschaften menschlicher Bewegungen. Denn nichts lässt uns die neuronalen Grundlagen des menschlichen Handelns so gut verstehen wie der Versuch, Teilaspekte des menschlichen Handelns in neuronalen Modellen nachzubauen.“
Das Gehirn ist wohl die komplexeste Struktur, die die Evolution hervorgebracht hat. Zwar sind in den letzten Jahrzehnten maßgebliche Fortschritte in der Erforschung der Funktionsweise des Gehirns erzielt worden, doch von einem tief greifenden Verständnis komplexer kognitiver Leistungen wie Wahrnehmung, Lernen oder Handeln sind wir bis heute noch weit entfernt. Computational Neuroscience kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. In ihrem interdisziplinären Forschungsansatz vereint sie die Kompetenz aus den Bereichen Mathematik, Physik, Biologie, Medizin, Psychologie, Informatik und Ingenieurwissenschaften. Dadurch wird es möglich, Hypothesen in Formeln zu fassen, die man im Computer simulieren und überprüfen kann. Die Computational Neuroscience ermöglichen es, grundlegende Prozesse und Funktionsprinzipien des Gehirns aufzuklären und die gewonnenen Erkenntnisse für medizinische und technologische Anwendungen verfügbar zu machen.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Gregor Schöner
Institut für Neuroinformatik
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
0234 322-7965
0234 321-4210
Gregor.Schoener@ini.rub.de