Professor Kayvan Bozorgmehr leitet die Forschungsgruppe RESPOND, die durch das BMBF gefördert wird. Im Interview spricht er über die Ziele seiner Arbeit, die er gemeinsam mit der Studienkoordinatorin Louise Biddle verfolgt.
Lieber Herr Bozorgmehr, wie schätzen Sie die gesundheitliche Versorgung von geflüchteten und asylsuchenden Menschen in Deutschland ein?
Die gesundheitliche Versorgung der in Deutschland lebenden Menschen erfolgt auf hohem Niveau, allerdings unterliegt die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten rechtlichen Einschränkungen, die je nach Bundesland und sogar Landkreis unterschiedlich ausgelegt werden. Jenseits der rechtlichen Einschränkungen des Leistungsumfangs gibt es jedoch auch eine Reihe anderer Faktoren, die dazu beitragen, dass die volle Leistungsfähigkeit des Versorgungssystems nicht genutzt wird. So gibt es keine flächendeckenden Lösungen zur Überwindung von Sprachbarrieren. Hinzu kommen Versorgungsbrüche durch die zahleichen Transfers zwischen und innerhalb der Bundesländer, eine Über- und Unterdiagnostik bei der Erstuntersuchung sowie eine gleichzeitige Über- und Unterversorgung bei der anschließenden Behandlung. Eine Unterversorgung wird zum Beispiel im psychosozialen Bereich sehr deutlich, wo die Versorgungslücken angesichts der hohen psychischen Belastungen bei Geflüchteten am deutlichsten zu Tage treten.
Wie kann Ihre Forschung dazu beitragen, die gesundheitliche Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe mit medizinisch notwendigen Leistungen zu verbessern?
Unser Ansatz entfernt sich von der Betrachtung einzelner Erkrankungen, ohne den Menschen aus dem Blick zu verlieren. Wir beschäftigen uns in RESPOND mit der Frage, welche Rahmenbedingungen und Stellschrauben in regionalen Gesundheitssystemen geändert werden müssten, um die gesundheitliche Versorgung Geflüchteter mit medizinisch notwendigen Leistungen effektiver, effizienter und auch bedarfsgerechter zu gestalten. Daraus leiten wir Maßnahmen ab, die das Gesundheitssystem als Ganzes stärken und dadurch Menschen mit verschiedenen Erkrankungen zu Gute kommen.
Welche Unterstützung wünschen sich Ärztinnen und Ärzte, damit sie geflüchtete und asylsuchende Menschen besser versorgen können?
Lösungen zur Sprachmittlung stehen hier ganz vorne, denn Medizin lebt vom Gespräch mit dem Menschen. Wenn bei der Sprachmittlung gespart wird, führt dies unweigerlich zu Überdiagnostik, denn was man nicht erfragen kann, muss man technisch in Erfahrung bringen, z.B. über Ultraschall oder sonstige apparative Untersuchungen. Als nächstes kommt in Bundesländern, die keine elektronische Gesundheitskarte haben, sicherlich der Wunsch, die ärztliche Arbeitszeit nicht großteils mit der Ausformulierung von Kostenübernahmeanträgen verbringen zu müssen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Bearbeitungszeit von Kostenübernahmeanträgen im Schnitt bei ca. drei Wochen liegt. Oft sind Patientinnen und Patienten bis dahin aus der Aufnahmeeinrichtung bereits in eine andere Stadt verlegt, wo unter Umständen ein neuer Antrag gestellt wird – das ist höchst ineffizient. Darüber hinaus wünschen sich Ärztinnen und Ärzte insbesondere in den großen Aufnahmeeinrichtungen bessere Infrastrukturen (z.B. Räumlichkeiten und eine adäquate IT-Ausstattung) und organisatorische Bedingungen (z.B. klare Regelungen für Zuständigkeiten), um ihrer ärztlichen Versorgungspflicht nachkommen zu können. Bei vielen führen erschwerte Arbeitsbedingungen zu hohen Belastungen, was sich dann wiederum nachteilig auf den zwischenmenschlichen Umgang mit Geflüchteten auswirken kann.
Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex. Für die Versorgung geflüchteter und asylsuchender Menschen tragen viele verschiedene Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen und Verwaltungsebenen Verantwortung.
Richtig, während das deutsche Gesundheitssystem fragmentiert ist haben wir es im Bereich der Versorgung Geflüchteter mit „Hyperfragmentierung“ zu tun. Nebst den klassischen ambulanten und stationären Sektoren kommen bei der Versorgung Geflüchteter verschiedene behördliche Zuständigkeitsebenen auf Bundesland, Kreis- und Gemeindeebene, die Organisationen der Verfahrens- und Sozialberatung, Wohlfahrtsverbände, kommerzielle privat-wirtschaftliche Dienstleister, Dolmetscher, Kliniken und Ehrenamtliche hinzu – um nur einige aufzuzählen.
Wie ist es Ihnen gelungen, diese zahlreichen Kooperationspartner für eine Mitarbeit in ihrem Forschungsprojekt „Entwicklung und Evaluation kontextspezifischer Interventionen zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Asylsuchenden (RESPOND)“ zu gewinnen?
Unsere Kooperationspartner konnten wir gewinnen, in dem wir uns „ihre“ Fragen angehört haben. Wir haben versucht, unser wissenschaftliches Erkenntnisinteresse bestmöglich mit der Perspektive der Anwenderinnen und Anwender in verschiedenen Settings abzugleichen, sodass die Kooperationspartner für sich bzw. für ihr Aufgabengebiet einen Mehrwert in der Mitarbeit sehen.
Sie wollen mit Ihrem Forschungsprojekt also dazu beitragen, dass die „Systemantwort“ verbessert wird?
Das Gesundheitssystem ist ein komplexes, sozial gewachsenes System, das sich immer wieder auf neue Anforderungen anpassen muss. In dessen Mittelpunkt stehen Menschen. Das heißt: Bevor das abstrakte Phänomen der „Systemantwort“ sich verändert, muss sich das menschliche Denken und Handeln verändern. Und dies muss wiederum in bestehende oder neue Strukturen, gemeinsame Prozesse und Organisationsformen in das Versorgungsgeschehen „übersetzt“ werden, damit sich eine Wirkung jenseits der Handlungen einzelner Menschen entfaltet.
Sprechen Ihre Kooperationspartner schon eine einheitliche Sprache?
Eine einheitliche Sprache sprechen unsere Kooperationspartner nicht. Vielleicht wäre es auch zu viel verlangt, dass Wissenschaftler, Juristen, Behörden sowie Ärzte und Fachkräfte eine einheitliche Sprache finden. Aber wir können definitiv sagen, dass unser Vorhaben dazu beiträgt, dass miteinander gesprochen und einander zugehört wird, sowohl über Bundeslandgrenzen als auch über Fachgrenzen und Zuständigkeitsgebiete hinweg.
Wie kann Ihr Projekt konkret zur Verständigung unter den Kooperationspartnern beitragen?
In einem unserer Workshops zur medizinischen Versorgung Geflüchteter in Aufnahmeeinrichtungen im Mai 2019 kamen über 40 Personen aus neun Bundesländern und verschiedenen Bereichen zusammen – aus der Medizin, der Wissenschaft, den Behörden sowie dem Öffentlichen Gesundheitsdienst. Für einige war es das erste Mal, dass sie sich außerhalb ihres lokalen oder regionalen Zuständigkeitsgebiets zu Ansätzen, Erfahrungen und Maßnahmen der medizinischen Versorgung Geflüchteter in anderen Regionen und Bundesländern austauschen konnten. Solche Plattformen sind essenziell, um den Austausch über ‚good practices‘ zu ermöglichen und so einen ersten Schritt Richtung Veränderung im Gesundheitssystem herbeizuführen. Versorgungsforschungsprojekte wie RESPOND können dazu wichtige Anstöße geben und als Katalysator wirken. Langfristig braucht es jedoch auch tragfähige Strukturen, die einen solchen Austausch nachhaltig ermöglichen. Hier ist insbesondere die Bundespolitik gefragt: Sie könnte bundesweite Plattformen schaffen, die einen Austausch über das föderale System hinaus ermöglichen.
Gibt es noch einen Aspekt, der Ihnen besonders am Herzen liegt?
Ja, unsere Forschung zeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem durchaus die Fähigkeit hat, sich kurzfristig anzupassen. Langfristig betrachtet ist das System aber eher veränderungsresistent. Zum Beispiel gibt es einschlägige wissenschaftliche Evidenz für einen rationaleren Einsatz diagnostischer Maßnahmen im Zuge der gesundheitlichen Erstuntersuchung von Geflüchteten. Trotzdem hat sich bisher kaum etwas verändert. Die Maßnahmen der Erstuntersuchung sind auch fünf Jahre nach dem Sommer 2015 in den 16 Bundesländern von Heterogenität geprägt und entsprechen teils nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Vielerorts ist es zudem nicht gelungen, aus den verschiedenen Initiativen des „Flüchtlingssommers“ nachhaltige Strukturen der Versorgung aufzubauen. Anderswo wurden bereits etablierte Strukturen mit dem Absinken der Asylantragszahlen ab 2016 wieder rückgebaut. Im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich nun, dass die ohnehin fragilen Versorgungsstrukturen in Aufnahmeeinrichtungen an ihre Grenzen stoßen. Hieraus und aus den Erfahrungen aus 2015 gilt es zu lernen; es braucht nachhaltige Strukturen sowohl in Aufnahmezentren, aber auch in den Landkreisen. Der öffentliche Gesundheitsdienst könnte hier –bei entsprechender personeller und finanzieller Unterstützung – eine tragende Rolle spielen. Außerdem ist ein kontinuierliches Gesundheitsmonitoring sowohl in den Aufnahmeeinrichtungen als auch auf Kreisebene dringend notwendig, um gesundheitliche Bedarfe geflüchteter Menschen zu identifizieren und nachhaltig zu adressieren.