Der Hamburger Pharmakologe Professor Thomas Eschenhagen steht an der Spitze des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung, kurz DZHK. Das BMBF fördert das Zentrum bis zum Jahr 2015 mit insgesamt 80 Millionen Euro. Im Interview spricht der Forscher über die Strategien und Perspektiven der Herz-Kreislauf-Forschung. (Newsletter 65 / Dezember 2013)
Herr Professor Eschenhagen, Fortschritte, die in den letzten zwei Jahrzehnten bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erreicht wurden, gelten als hauptverantwortlich für unsere erfreulich gestiegene Lebenserwartung. Warum dann noch ein eigenes „Deutsches Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung“? Gibt es nicht andere, womöglich dringender anzugehende medizinische Problemfelder?
Professor Thomas Eschenhagen: Die Antwort ist einfach. Die Erfolge der Herz-Kreislauf-Forschung sind für alle spürbar und messbar. Dennoch sterben noch immer die weitaus meisten Menschen an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems.
Und warum ist das noch immer so?
Es gibt große Fortschritte – aber leider auch Bereiche, in denen nur wenig oder gar nichts weitergegangen ist.
Wie verteilen sich Fortschritt und Stillstand?
Fortschritte gibt es in der Prävention, die Menschen rauchen weniger, sie essen gesünder, und sie bewegen sich mehr. Auch die Therapie des Herzinfarkts hat sich erheblich verbessert, die Sterblichkeit konnte in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten etwa halbiert werden. Das ist enorm. Im selben Zeitraum zugenommen hat jedoch die Herzinsuffizienz, die Herzschwäche. Das ist eine Folge der verbesserten Herzinfarkttherapie – die Menschen überleben den Infarkt, der Herzmuskel aber ist geschädigt, und es kann langfristig eine Herzschwäche folgen. Ein zweiter Grund für die häufiger werdende Herzschwäche ist, dass die Menschen immer älter werden.
Bleiben wir kurz beim Beispiel Herzschwäche – was sind da die medizinischen Probleme?
Seit über zwanzig Jahren ist nur ein einziges wirklich neues Medikament zur Therapie der Herzinsuffizienz auf den Markt gekommen. Gegen eine bestimmte Form, die sogenannte diastolische Herzinsuffizienz, ist überhaupt kein Kraut gewachsen. Daran leiden immerhin 40 Prozent der herzinsuffizienten Patientinnen und Patienten, vorwiegend Frauen. Doch die Herzschwäche ist es nicht alleine, auch beim Vorhofflimmern, an dem viele ältere Menschen erkranken, besteht therapeutischer Bedarf. Wichtig wäre es darüber hinaus, drohende Herzinfarkte frühzeitig und sicher zu erkennen. Sie reißen trotz aller medizinischen Fortschritte noch viele Menschen mitten aus dem Leben. Das sind einige von vielen Beispielen, die den unverändert großen Forschungsbedarf in der Herz-Kreislauf-Medizin aufzeigen.
Wie kann ein Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung dazu beitragen, solche medizinischen Probleme in nächster Zukunft zu lösen?
Um medizinische Erfolge schneller zu erzielen, müssen wir uns in der Forschung neu aufstellen. Und das heißt in erster Linie, vorhandene Ressourcen zu bündeln. Deutschland gehört in der Herz-Kreislauf-Forschung zur Weltspitze, überall im Land verteilt gibt es in unterschiedlichen Institutionen exzellente Forscherinnen und Forscher mit hervorragenden Ideen. Das Zentrum will ihnen einen Rahmen bieten, damit sie ihre Forschungsvorhaben gemeinsam, besser und schneller umsetzen können. Das allem übergeordnete Ziel aber ist eine erfolgreiche Translation. Uns allen ist bewusst, dass dies selbst der pharmazeutischen Industrie trotz ihres erheblich größeren finanziellen Aufwands nur in Einzelfällen gelingt – aber wir sehen eine Chance.
Was heißt Translation?
Ergebnisse, die Grundlagenforscher im Labor erarbeiten, sollen zügiger in die medizinische Praxis überführt werden, damit Patientinnen und Patienten rasch von den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft profitieren können.
„Will gut Ding nicht auch Weile haben?“, ist man da als Laie versucht zu fragen.
Das ist grundsätzlich richtig. Es sind aber nicht immer fachliche Gründe dafür verantwortlich, dass neue Forschungsergebnisse den Patientinnen und Patienten gleichsam vorenthalten bleiben, sondern häufig organisatorische und strukturelle Mängel des Systems.
Was meinen Sie damit?
Mit unserem bisherigen, vor allem akademisch getriebenen System bekommen wir keine Translation hin. Davon bin ich überzeugt. Was wir dafür brauchen, sind zusätzliche Strukturen an den Universitäten und Instituten, die den langfristigen translationalen Erfolg in den Vordergrund stellen und belohnen – und nicht allein die wissenschaftliche Veröffentlichung in einem noch so renommierten Fachjournal. Die wissenschaftliche Veröffentlichung ist wichtig; sie ist gleichsam die Währung der Wissenschaft. Aber sie ist nicht gleichbedeutend mit therapeutischem Erfolg. Und um den allein geht es im Sinne der Patientinnen und Patienten. Bei der neuen wissenschaftlichen Erkenntnis darf das System nicht stehen bleiben – der Weg bis hin zum Patienten muss von vornherein mitgedacht und konsequent bis zum Ende gegangen werden. Es gibt Lücken auf diesem Weg. Und die wollen wir schließen, wo wir können.
Mit welchen Maßnahmen?
Mit der Schaffung einer solide finanzierten Infrastruktur für Translation; mit attraktiven Perspektiven für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, diesen Weg zu gehen; mit einem anderen Selbstverständnis der Forschenden; mit Kooperation statt Konkurrenz und weniger Hierarchie. Wir stellen uns beispielsweise eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor, die an der Schnittstelle von Grundlagenforschung und Medizin arbeiten, Kenntnisse aus beiden Bereichen einbringen und gleichberechtigte Partnerschaften – etwa mit pharmazeutischen Unternehmen – eingehen. Auf diese Weise könnte der nicht allein in Deutschland, sondern auch international beklagte „translational gap“ langfristig geschlossen werden; interessante wissenschaftliche Ergebnisse würden zügiger zum Wohle der Patientinnen und Patienten umgesetzt werden.
Das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung vereint unter seinem virtuellen Dach derzeit mehr als 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 26 Einrichtungen in sieben Standorten aus ganz Deutschland. Wie kommt man bei so viel hochkarätiger Vielfalt und Individualität zu gemeinsamen Forschungsstrategien und konkreten Forschungsprogrammen?
Wir setzen auf Einsicht, Kommunikation und Demokratie. Mit hierarchischen Strukturen, auch davon sind wir überzeugt, kommen wir nicht weiter. Sie bremsen genau das aus, was wir haben wollen – Kreativität und Kooperation. Unserem „Parlament“, in dem wir gemeinsam diskutieren und entscheiden, gehören 30 in Deutschland führende Herz-Kreislauf-Forscherinnen und -Forscher aller sieben Standorte an. Jeden Monat treffen wir uns in unserer Geschäftsstelle in Berlin, um über Strategien, Themen und künftige Fokussierungen der Herz-Kreislauf-Forschung zu sprechen. Ich glaube, wir haben eine außergewöhnlich gute interdisziplinäre Diskussionskultur entwickelt. Wie wir alle wissen, kann Demokratie mühsam und langwierig sein – aber es werden dabei alle mitgenommen, und darin steckt ein großes kreatives Potenzial.
Welche konkreten Projekte wollen Sie auf den Weg bringen?
Erstens klinische Studien, zweitens eine experimentelle Entwicklungspipeline zur Entwicklung neuer Therapieformen und drittens ein nationales Ausbildungsprogramm für Herz-Kreislauf-Forscherinnen und -Forscher an der Schnittstelle von Grundlagenforschung und Klinik.
Klinische Studien nennen Sie an erster Stelle.
Ja, weil klinische Studien letztlich über den Erfolg oder Misserfolg von Therapie- oder Präventionsmaßnahmen entscheiden. Wir planen im Zentrum kleine innovative Studien mit neuen Ansätzen; wir wollen aber auch große definitive Studien durchführen. An einer typischen Zulassungsstudie für ein neues Medikament in der Herz-Kreislauf-Medizin sind 10.000 bis 15.000 Patientinnen und Patienten beteiligt. Das ist zunächst eine klare Domäne der Industrie. Aber Vergleiche zwischen verschiedenen Therapieformen oder die Testung von Medikamenten ohne Patentschutz benötigen auch eine große Patientenzahl. Sie sind für die Industrie weniger interessant, stehen aber im öffentlichen Interesse. Eine einzelne Klinik kann die für derartige Studien erforderlichen großen Patientenzahlen nicht aufbringen. Der Zusammenschluss im Zentrum aber bietet diese Möglichkeit. Große Studien sind die Grundlage einer zukunfts- und patientenorientierten Herz-Kreislauf-Forschung. Von Deutschland sind Studien, die das Feld neu bestimmen, bislang zu selten ausgegangen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich das ändert.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen – was wollen Sie in zehn Jahren für die Patientinnen und Patienten erreicht haben?
Wenn man uns in zehn Jahren danach bewerten wollte, wie viele Therapeutika von uns in die Anwendung gebracht wurden, wäre ein Scheitern vorprogrammiert. Das können wir wahrscheinlich nicht leisten. Aber wir können sehr wohl viele kleine Fortschritte beitragen, die sich dann zu einem insgesamt großen Sprung aufsummieren. Beispiele für vielversprechende Ansätze sind etwa die Gentherapie oder andere molekulare Herangehensweisen wie die Verwendung sogenannter Micro-RNAs, um kranke Gene auszuschalten. Das schrittweise Vorangehen hat bereits in den letzten beiden Jahrzehnten große Fortschritte erbracht, und es ist nicht unrealistisch, das – gerade bei einer Bündelung der Kräfte – auch für die Zukunft zu erwarten. Das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung bietet die besten Voraussetzungen dafür – Zauberlösungen indes darf man auch von uns nicht erwarten.