Der Jenaer Medizininformatiker Prof. Dr. Cord Spreckelsen setzt sich dafür ein, Künstliche Intelligenz sinnvoll zu nutzen, den Datenschutz zu wahren und Studierende von Zahlenblindheit zu heilen.
Heidelberg, 1993: Cord Spreckelsen schließt seine Diplomarbeit in Theoretischer Physik erfolgreich ab, fühlt sich aber nicht völlig wohl in einem Forschungsfeld, in dem nach fundamentalen Gleichungen für die großen Prozesse der Welt gesucht wird. „Manchmal war es sogar schwierig, sich mit anderen Diplomanden darüber zu verständigen, an welchen Forschungsfragen sie gerade arbeiten“, erinnert er sich. Als „total neugieriger Mensch“ sucht er nach einem Tätigkeitsfeld, das mehr Austausch und Kommunikation ermöglicht. Über Jobs als Wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Heidelberg entdeckt er die Medizinische Informatik – und sein Mut, angestammte Wege zu verlassen, zahlt sich aus. Er erhält ein Stipendium und wechselt schließlich an die Technische Hochschule Aachen, wo er promoviert und sich habilitiert.
Projekte an der Schnittstelle zwischen menschlicher und Künstlicher Intelligenz
2018 erreicht Spreckelsen ein Ruf auf eine Professur für Medizinische Informatik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, verbunden mit einer Position als Arbeitsgruppenleiter am Universitätsklinikum Jena. Hier führt seine Neugierde ihn zu sehr unterschiedlichen Projekten an der Schnittstelle zwischen menschlicher und Künstlicher Intelligenz, immer getrieben von dem Wunsch, Wissen aus Daten zu gewinnen und sinnvoll zur Verbesserung von Prozessen einzusetzen. Im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Medizininformatik-Initiative wirbt er für Jena eine Nachwuchsgruppe ein, die Probleme der Krankenhauslogistik besser lösen will. Ziel ist es, Verbrauchsmengen, Materialströme und Auslastungszahlen der Kliniken automatisiert vorherzusagen, so dass Bestellungen besser geplant und beispielsweise weniger Material nach Ablauf des Verfallsdatums ungenutzt entsorgt werden muss.
Nachwuchsgruppen für die Medizininformatik
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Schnittstelle von Informatik und Medizin ist ein Kernelement des Förderkonzepts Medizininformatik des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Um einen Anreiz für die Einrichtung zusätzlicher Professuren für Medizininformatik zu geben, bietet das BMBF den an der Medizininformatik-Initiative beteiligten Hochschulen die Förderung von Nachwuchsgruppen als Unterbau für eine neu eingerichtete Medizininformatik-Professur an. Im Rahmen des SMITH-Konsortiums – Smart Medical Information Technology for Healthcare – werden drei Nachwuchsgruppen unterstützt. SMITH ist eines von vier Konsortien der deutschen Medizininformatik-Initiative.
Weitere Informationen zur Medizininformatik-Initiative und zu SMITH
Auch Fragen des Datenschutzes beschäftigen ihn und sein Team. In einem weiteren Projekt trainieren die Forschenden beispielsweise eine Software, um in Arztbriefen mehrerer Standorte alle personenbezogenen Daten zu finden und zu löschen. „Die Arztbriefe an einer Stelle zu sammeln, um das Programm zu trainieren, wäre nicht datenschutzkonform gewesen, denn dann verlassen die Informationen ja die Klinik“, erklärt er. Also entwickeln die Medizininformatikerinnen und -informatiker eine Künstliche Intelligenz, die jeweils vor Ort lernt. Als neuronales Netz passt sie dabei die Stärke ihrer Netzverknüpfungen an Trainingsdaten an. Per Zufallsprinzip wird dann nur ein Teil dieser Änderungen an ein zentral verfügbares, baugleiches Netz gemeldet. Dieses lernt von allen Orten, ohne dass Rückschlüsse auf die ursprünglichen Trainingsdaten möglich sind.
Zahlenblindheit: weit verbreitet, aber heilbar
Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber Spreckelsen, der sich in den Ferien gern mal zurückzieht, um Philosophen im Original zu lesen, ist ein guter Erklärer und hat ein Zusatzstudium zum „Master of Medical Education“ absolviert. Er schätzt neue Ideen und wünscht sich weniger Bürokratie und mehr Wertschätzung für gute Lehre. Schon in seinem vorigen Wirkungsbereich an der RWTH Aachen setzte er sich engagiert gegen ein Phänomen ein, das von ihm und anderen drastisch „Zahlenblindheit“ genannt wird. „Viele Medizinstudierende − und bis auf wenige Ausnahmen: wir alle − haben Schwierigkeiten, grundlegende mathematisch-methodische Begriffe zu verstehen und zu behalten. Für die Studierenden kann sich dies negativ auf eine spätere Tätigkeit als Ärztin oder Arzt auswirken“, beschreibt er.
Mit Unterstützung des Stifterverbandes sowie des Wissenschaftsministeriums Nordrhein-Westfalen entwickelte er daher ein semesterübergreifendes Online-Modul, das mathematisch-methodische Konzepte in kurzen Videos mit Verständnisfragen, Selbsttests und Lernspielen erklärt und wiederholt. So sollen die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte später einmal in der Lage sein, ihren Patientinnen und Patienten die Risiken von Therapien oder die Zuverlässigkeit diagnostischer Tests verständlich zu erklären. „Ein typisches Beispiel ist, dass die meisten Menschen mit Wahrscheinlichkeiten, die in Prozenten ausgedrückt werden, nicht gut umgehen können – eine Wahrscheinlichkeit von 0,02 Prozent überfordert schnell unser kognitives System, aber unter ‚zwei Erkrankungen in einer Gruppe von 10.000 Menschen‘ kann sich jeder etwas vorstellen“, nennt er ein einfaches Beispiel.
Was macht das Lernen wirksam?
Auch im Rahmen des vom BMBF geförderten Medizininformatik-Konsortiums SMITH beschäftigen ihn die Fragen, wie man die Lehre unter Nutzung digitaler Lehrmedien effizient gestalten kann, was das Lernen wirksam macht und was es behindert. Die von ihm begleitete Infrastruktureinheit SMITH-JET erstellt unter Mitwirkung von Lehrkoordinatorinnen und -koordinatoren an den verschiedenen Standorten Lernzielkataloge, um einen Überblick zu behalten, welche Lernziele im sich ständig weiterentwickelnden Feld der Medizinischen Informatik aktuell wichtig sind, und entwickelt Lernangebote dazu. Positives Feedback der Studierenden zu seinem Engagement macht ihn besonders stolz: „Ich freue mich, wenn ich hier vermitteln und den Teufelskreis des Bulimielernens aus ,Aufnehmen – Aufschreiben – Vergessen‘ durchbrechen kann.“
Auch eine zweite Erfahrung gibt er gern weiter: „Fehlschläge gehören zur Wissenschaft! Routinierte Projekte sind weniger fehleranfällig, aber wenn man etwas Neues probiert, geht es oft erstmal schief. Davon darf man sich nicht herunterziehen lassen.“
Diese Hartnäckigkeit und viele solide, kleine Schritte sind seiner Ansicht wichtiger als das Warten auf den einen großen Durchbruch. Und dann verrät er doch ein großes Ziel, zu dem er gern beitragen würde: „Ich wünsche mir ein möglichst weit automatisiertes Dokumentationssystem, denn Ärztinnen und Ärzte leiden darunter, dass sie von den Dokumentationspflichten zeitlich so stark beansprucht werden. Wenn es uns gelingen würde, die Kommunikation, sämtliche Untersuchungsschritte und ihre Ergebnisse automatisch zu erfassen, wäre das ein wichtiger Schritt für eine zugewandte Medizin, in der die Behandelnden viel mehr Zeit für die Sorgen und Anliegen ihrer Patientinnen und Patienten haben. Und davon profitieren alle.“