August 2024

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Dem Altern in die Karten geschaut

880 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern helfen aktiv mit, mehr über gesundes Altern zu erfahren: Sie alle nehmen freiwillig an der großen MV-Fit-Gesundheitsstudie teil. Die Ergebnisse könnten die Versorgung von älteren Menschen grundlegend verbessern.

Bilder von mehreren älteren Menschen

Das Studienzentrum am Kreiskrankenhaus Wolgast wurde mit Porträts von Hundertjährigen ausgestaltet, die der Künstler Karsten Thormaehlen fotografiert hat. Sie zeigen die aktiven Protagonisten des Fotografen und stellen die Schönheit und Würde des Alterns dar.

Karsten Thormaehlen/Kreiskrankenhaus Wolgast

Die MV-Fit (Mecklenburg-Vorpommern Frailty Interventional Trial)-Studie wird von Professor Dr. Maik Gollasch, Direktor der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin D (Geriatrie) an der Universitätsmedizin Greifswald, in Kooperation mit dem Kreiskrankenhaus Wolgast geleitet. Im Interview erklärt er die Hintergründe dieser und einer weiteren von ihm durchgeführten Studie zum Thema Altern, warum ein genauer Blick, insbesondere auf Gebrechlichkeit und eingeschränkte Nierenfunktionen, so wichtig ist – und warum die Altersmedizin ausgerechnet von der Raumfahrtforschung profitiert.

Herr Professor Gollasch, die meisten Menschen wollen alt werden, aber nicht alt sein. Welchen Beitrag kann Ihre Studie dazu leisten, dieses Dilemma aufzulösen?

Das Altern ist im wahrsten Sinne des Wortes ein alltäglicher Prozess – und doch sind aus medizinischer Sicht viele Faktoren noch unbekannt. Wir sollten uns deshalb intensiver mit dem Zusammenspiel unterschiedlicher Alterserscheinungen beschäftigen. Denn die Menschen in unserer Gesellschaft werden immer älter und damit steigt der Anteil an Personen, die eine besondere Versorgung benötigen: In Mecklenburg-Vorpommern betrug im Jahr 2020 der Anteil der Personen ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung knapp 26 Prozent, in 20 Jahren werden es 33 Prozent sein.

Professor Dr. Maik Gollasch, Studienleiter und Direktor der Geriatrie an der Universitätsmedizin Greifswald.

Professor Dr. Maik Gollasch, Studienleiter und Direktor der Geriatrie an der Universitätsmedizin Greifswald.

Universitätsmedizin Greifswald

Mit unserer Studie möchten wir dazu beitragen, im Alter möglichst viel Lebensqualität und Unabhängigkeit zu bewahren. Zwei Phänomene haben wir dabei besonders im Blick: die zunehmende Gebrechlichkeit, die zu vermehrten Stürzen führt und damit das Sterberisiko erhöht, und chronische Nierenerkrankungen, die ebenfalls ein großer Risikofaktor für die Sterblichkeit bei älteren Menschen sind – bei uns in Mecklenburg-Vorpommern kommen sie im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders häufig vor. Bisher ist Gebrechlichkeit in Verbindung mit Nierenfunktion nicht gut erforscht – hier versuchen wir, Licht ins Dunkel zu bringen. 

Wie gehen Sie vor, um mehr über das Altern zu erfahren?

Wir führen eine groß angelegte Studie durch, die aus zwei Komponenten besteht: In der neuen MV-Fit-Kohorte begleiten wir rund 880 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer drei Jahre lang beim Älterwerden und untersuchen die Personen regelmäßig mit umfangreichen Methoden. In der SHIP-Kohorte werden zusätzlich rund 2.100 Teilnehmende, die 60 Jahre oder älter sind, über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachtet und mit einem Fragebogen zu Gebrechlichkeit und Nierenfunktion befragt. Mithilfe dieser breiten Datenbasis suchen wir nach Risikofaktoren und Mechanismen, die uns besser erklären, warum Menschen gebrechlich werden, warum sich chronische Nierenerkrankungen entwickeln und ob ein Zusammenhang zwischen beiden Alterserscheinungen besteht. Diese Antworten helfen uns, sinnvolle Vorbeugungsmaßnahmen zu entwickeln.

Gesundheitsstudien in Mecklenburg-Vorpommern

Die SHIP-AGE/MV-Fit-Studie (Mecklenburg-Vorpommern Frailty Interventional Trial) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zunächst bis zum Jahr 2026 mit rund 2,4 Millionen Euro gefördert. Die Untersuchung soll auch von Daten der seit den 1990er-Jahren laufenden großen Gesundheitsstudie SHIP (Study of Health in Pomerania) mit bereits über 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern profitieren, die ebenfalls mit Unterstützung des BMBF durchgeführt wird. Im Gegensatz zur SHIP-Studie, für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zufällig ausgewählt werden, können sich Interessierte für MV-Fit selbst melden. Frauen und Männer ab 65 Jahren, die gern an der Studie teilnehmen möchten, können Kontakt zum Probandenmanagement aufnehmen: Tel.: 03834 8619577 oder E-Mail an kontakt-mvfit@med.uni-greifswald.de.

 ​Mit welchen Methoden lässt sich das Altern untersuchen?

Eigens für die MV-Fit-Studie wurde im Kreiskrankenhaus Wolgast ein modernes geriatrisches Untersuchungszentrum eingerichtet, in dem die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer intensiv untersucht werden. Die Untersuchungen sollen regelmäßig über drei Jahre wiederholt werden, um mittel- und langfristige Veränderungen im Gesundheitszustand älterer Menschen erforschen zu können. Wir untersuchen unter anderem Blutdruck und Kreislauf, körperliche Aktivität, Knochendichte, Muskelmasse und Fettverteilung − aber eben auch die Nierenfunktion. Von dem gewonnenen Datenschatz profitieren sowohl wir als Forschende als auch unsere Teilnehmenden: Aus den Ergebnissen leiten wir persönliche Empfehlungen für therapeutische Trainingsprogramme, altersgerechte Ernährung und Medikamentenverträglichkeit ab und stellen diese den Probanden zur Verfügung. Bei den etwa vier- bis sechsstündigen Untersuchungen mit Pausen kommt eine Vielzahl neuester Messmethoden zum Einsatz. So erfolgt die Sturzrisikoeinschätzung beispielsweise mit einem elektronischen Ganganalyseteppich, der mit 30.000 Sensoren ausgestattet ist.

Sie arbeiten auch mit Experten aus der Raumfahrtmedizin zusammen – inwiefern gibt es hier gemeinsame Forschungsfragen?

Es gibt sehr viele Berührungspunkte zwischen Raumfahrt- und Altersmedizin! Die extremen Umweltbedingungen im Weltraum wie Schwerelosigkeit, Strahlenbelastung und Isolation bewirken körperliche Abbauprozesse, die einer Alterung im Zeitraffer gleichen. Die Raumfahrtmedizin will dem entgegenwirken, um die Gesundheit von Astronauten zu schützen. Aber die Erkenntnisse helfen auch, Menschen in höherem Lebensalter gesund zu erhalten. Hier ein konkretes Beispiel: Die Sprungkraft der Beine wird in unserer Studie mittels einer speziellen Sprungkraftplatte gemessen. Diese Methode wurde am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln entwickelt, um die Sprungkraft von Astronautinnen und Astronauten vor und nach Flügen in das Weltall zu beurteilen. Die Messung funktioniert übrigens ohne direktes Abheben – bei uns muss niemand in die Luft gehen.

Originalpublikationen:
Komleva, Y., Gollasch, M., König, M. (2024). Nocturia and frailty in older adults: a scoping review. BMC Geriatr. 2024 Jun 6;24(1):498. DOI: 10.1186/s12877-024-05049-3. PMID: 38844878 Free PMC article. Review.

Sarwinska, D., Grimm, M., Krause, J., Schick, P., Gollasch, M., Mannaa, M., Ritter, C. A., Weitschies, W. (2024). Investigation of real-life drug intake behaviour in older adults and geriatric patients in Northern Germany − A biopharmaceutical perspective. Eur J Pharm Sci. 2024 May 28;200:106814. DOI: 10.1016/ j.ejps.2024.106814. Online ahead of print. PMID: 38815699.

König, M., Gollasch, M., Komleva, Y. (2023). Frailty after COVID-19: The wave after? Aging Med (Milton). 2023 Jun 28;6(3):307-316. DOI: 10.1002/agm2.12258. eCollection 2023 Sep PMID: 37711259 Free PMC article. Review.

Ittermann, T., von Rheinbaben, S., Markus, M. R. P., Dörr, M., Steveling, A., Nauck, M., Teumer, A., Gollasch, M., Spira, D., König, M., Demuth, I., Steinhagen-Thiessen, E., Völzke, H., Stracke, S. (2023). High Thyroid-Stimulating Hormone and Low Free Triiodothyronine Levels Are Associated with Chronic Kidney Disease in Three Population-Based Studies from Germany. J Clin Med. 2023 Sep 4;12(17):5763. DOI: 10.3390/jcm12175763. PMID: 37685830.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Maik Gollasch
Universitätsmedizin Greifswald
− Körperschaft des öffentlichen Rechts −
Zentrum für Innere Medizin
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin D − Geriatrie
Ferdinand-Sauerbruch-Straße
17475 Greifswald
Tel.: 03836 257-591
Maik.Gollasch@med.uni-greifswald.de