Februar 2016

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Demenz: Antidiabetika haben möglicherweise eine vorbeugende Wirkung

Ein Forschungsteam des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) fand heraus, dass bestimmte Medikamente zur Behandlung der Diabetes Typ 2, auch „Altersdiabetes“ genannt, das Risiko für Alzheimer und andere Demenzformen verringern kann.

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Damit Muskeln, Gehirn und sonstige Bestandteile des Organismus funktionsfähig bleiben, muss der menschliche Körper ständig mit Energie versorgt werden. Um dies zu gewährleisten, hält der Stoffwechsel einen ausgeklügelten Steuerungsmechanismus bereit: Verschiedene Hormone spielen zusammen, damit im Blut eine optimale Konzentration an Zucker vorliegt. Dieser Blutzuckerspiegel gerät bei einem Diabetes Typ 2 jedoch schnell aus dem Gleichgewicht, weil das Hormon Insulin seine regulierende Wirkung nicht richtig entfaltet. Gewichtsreduktion und vermehrte Bewegung, oft begleitet von der Einnahme von Medikamenten, sind erste Therapiemaßnahmen. Sie zielen darauf, die Wirkung des körpereigenen Insulins zu verbessern. Doch im fortgeschrittenen Krankheitsstadium kann der Körper kein eigenes Insulin mehr herstellen. Dann muss das Hormon regelmäßig per Spritze oder Pumpe zugeführt werden.

Diabetes Typ 2 ist die häufigste Form des Diabetes mellitus. Früher trat diese Stoffwechselstörung fast ausschließlich im späteren Erwachsenenalter auf. Die daraus entstandene Bezeichnung „Altersdiabetes“ ist auch heute noch gebräuchlich, wird der Situation aber nicht mehr ganz gerecht. Denn mittlerweile sind – auch als Folge von Übergewicht und Bewegungsmangel – immer mehr junge Menschen betroffen.

Die Erkrankung kann die Nieren und das Herzkreislauf-System schädigen und langfristig auch die geistige Gesundheit beeinträchtigen: Bevölkerungsstudien belegen, dass Menschen mit Diabetes – im Durchschnitt betrachtet – häufiger an einer Demenz erkranken als Nicht-Diabetiker. Die Ursachen dafür sind nicht restlos verstanden. Möglicherweise ist der Zusammenhang zwischen Diabetes und Demenz unter anderem darin begründet, dass durch den Diabetes auch die Blutgefäße des Gehirns beeinträchtigt werden. Dieser schleichende Prozess kann letztlich dazu führen, dass die kognitiven Fähigkeiten nachlassen.

Statistische Auswertung

Bevölkerungsstudien belegen, dass Menschen mit Diabetes im Durchschnitt häufiger an einer Demenz erkranken als Nicht-Diabetiker.

Bevölkerungsstudien belegen, dass Menschen mit Diabetes im Durchschnitt häufiger an einer Demenz erkranken als Nicht-Diabetiker.

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Doch wie können Antidiabetika das Risiko beeinflussen, an Demenz zu erkranken? Professor Dr. Gabriele Doblhammer, Expertin für Bevölkerungsstudien, ihre Fachkollegin Anne Fink sowie der Neurologe Professor Dr. Michael Heneka behandelten diese Frage im Rahmen einer Untersuchung des DZNE. Arbeitsgrundlage des interdisziplinären Forschungsteams waren Datensätze der Krankenkasse AOK aus den Jahren 2004 bis 2010. Diese anonymisierten Unterlagen umfassten Angaben über Diagnosen und Medikationen von mehr als 145.000 Frauen und Männern im Alter ab 60 Jahren.

„Solche Datensätze enthalten eine Fülle an Informationen, die sich mithilfe statistischer Methoden auswerten lassen“, erläutert Doblhammer, die in Bonn und Rostock tätig ist. Die Analyse bestätigte bisherige Befunde, dass Menschen mit Diabetes grundsätzlich ein erhöhtes Demenzrisiko aufweisen. Doch es stellte sich noch etwas anderes heraus: Eine Behandlung mit dem Wirkstoff „Pioglitazon“ konnte dieses Gefährdungspotenzial maßgeblich beeinflussen.

Langzeitbehandlung verringerte Risiko einer Demenz

Pioglitazon ist ein handelsübliches Antidiabetikum, das die Wirkung des körpereigenen Insulins unterstützt. Dadurch können die Körperzellen den im Blut zirkulierenden Zucker besser aufnehmen. Der Wirkstoff wird in Tablettenform eingenommen und kann den Blutzucker sowohl kurzfristig als auch im Rahmen einer langfristigen Therapie regulieren. In der Behandlung von Diabetes Typ 2 kann Pioglitazon über Jahre hinweg eingesetzt werden, sofern der Organismus noch eigenes Insulin herstellt.

„In unsere Analyse haben wir sämtliche Formen von Demenz einbezogen, die von den Datensätzen erfasst wurden, darunter auch Alzheimer. Wir haben jedoch nicht zwischen einzelnen Demenzformen unterschieden, zumal bei mehr als der Hälfte aller Fälle die Art der Demenz nicht näher aufgeschlüsselt war“, so Doblhammer. „Wir haben uns also Demenzerkrankungen in ihrer Gesamtheit angeschaut. Hier zeigte die Behandlung mit Pioglitazon einen positiven, sehr bemerkenswerten Nebeneffekt: Die Behandlung konnte das Risiko einer Demenz wesentlich verringern. Je länger sie andauerte, umso geringer war das Risiko, an einer Demenz zu erkranken.“

Am deutlichsten sank das Risiko, wenn Pioglitazon mindestens zwei Jahre verabreicht wurde. Statistisch gesehen erkrankten die so behandelten Diabetiker sogar weniger häufig an Demenz als Menschen ohne Diabetes. Doblhammer: „Das Erkrankungsrisiko war um 47 Prozent geringer als bei Nicht-Diabetikern, also etwa nur halb so groß. Dauerte die Behandlung hingegen weniger als zwei Jahre, so war das Demenzrisiko ähnlich hoch wie bei Menschen ohne Diabetes.“

Das Forschungsteam untersuchte auch, wie andere häufig verschriebene Antidiabetika sich auf das Demenzrisiko auswirkten. Es zeigte sich, dass eine Behandlung mit „Metformin“ das Gefährdungspotenzial ebenfalls herabsetzte. Allerdings war dieser Effekt geringer als bei einer Therapie mit Pioglitazon.

Demenz

Der Begriff „Demenz“ beschreibt ein weites Spektrum von Symptomen, die eine Beeinträchtigung geistiger Fähigkeiten widerspiegeln. Die Alzheimersche Krankheit ist die bekannteste Demenzform. Mögliche Auswirkungen einer Demenz sind Vergesslichkeit, Sprachprobleme, Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen und Veränderungen der Persönlichkeit. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und Bewegungsmangel erhöhen dabei zusätzlich das Risiko.In Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa 1,5 Millionen Menschen mit einer Demenz. Viele von ihnen sind an Alzheimer erkrankt, doch auch andere Erkrankungen können eine Demenz auslösen. Weit verbreitet sind zudem Mischformen, sodass beispielsweise Alzheimer gemeinsam mit anderen Demenzerkrankungen vorliegen kann. Hierzulande gibt es alljährlich rund 300.000 neue Fälle von Demenz. Setzt sich dieser Trend fort, so könnte die Zahl der Patientinnen und Patienten bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen anwachsen.

Schutz vor Schäden an Nervenzellen

Diese aktuelle Analyse von Krankenkassen-Daten zeigt einen statistischen Zusammenhang zwischen der Behandlung mit Pioglitazon und der Senkung des Demenzrisikos. Allein betrachtet belegt sie noch keinen ursächlichen Zusammenhang. Allerdings gibt es weitere Studien, die eine solche Verbindung nahelegen. Denn Experimente aus dem Labor deuten schon länger darauf hin, dass Pioglitazon die Hirnzellen schützt. Für den Bonner Neurowissenschaftler Michael Heneka sind die jüngsten Ergebnisse daher keine Überraschung: „Die Alzheimer-Erkrankung ist eine der häufigsten Demenzformen. Insbesondere von ihr ist bekannt, dass sich das Hirngewebe entzündet und im Gehirn schädliche Eiweißstoffe ansammeln. Hier setzt Pioglitazon an. Dieser Wirkstoff kann vom Blut ins Gehirn gelangen und ist entzündungshemmend. Außerdem wirkt er der Ablagerung schädlicher Eiweiße entgegen. Denn Pioglitazon blockiert das Enzym Beta-Sekretase, das an der Entstehung solcher Eiweiß-Ablagerungen beteiligt ist. Das zeigen Untersuchungen an Hirnzellen und Mäusen.“

Nach Einschätzung des Neurologen könnte Pioglitazon im Rahmen einer Diabetes-Behandlung möglicherweise gezielt zur Demenzprävention eingesetzt werden. „Unsere Analyse von Krankenkassen-Daten deutet darauf hin, dass Pioglitazon eine vorbeugende Wirkung hat. Demnach werden Menschen mit Diabetes, die keine Symptome einer Demenz aufweisen, vor späteren Demenzerkrankungen geschützt. Das gilt insbesondere für Alzheimer“, so Heneka.
 

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE)

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) erforscht die Ursachen von Störungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie und Pflege. Es bündelt exzellente, über Deutschland verteilte Expertise innerhalb einer einzigen Forschungseinrichtung und umfasst die neun Standorte Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen und Witten. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen. Es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren und gleichzeitig eines von sechs Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zur Bekämpfung der wichtigsten Volkskrankheiten eingerichtet wurden.Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.dzne.de und auf Facebook unter www.dzne.de/facebook.

Offen sei allerdings die Frage, ob die Schutzfunktion nur für Patienten mit Diabetes gilt oder bei Nicht-Diabetikern ebenfalls auftreten würde. Heneka setzt daher auf klinische Studien. Bisherige Untersuchungen zur Wirkung von Antidiabetika auf Demenzerkrankungen haben sich auf Patienten konzentriert, bei denen eine Demenz bereits ausgebrochen war. Studien zur Prävention sind gerade erst angelaufen. „Laboruntersuchungen weisen darauf hin, dass Antidiabetika in erster Linie vorbeugend wirken und für die Behandlung einer schon bestehenden Demenz weniger gut geeignet sind. Klinische Präventionsstudien sind daher der nächste logische Schritt“, sagt der Bonner Forscher.

Originalarbeit
Effect of pioglitazone medication on the incidence of dementia, Michael T. Heneka, Anne Fink, Gabriele Dobl-hammer, Annals of Neurology 78, 284-294 (2015), doi: 10.1002/ana.24439

Ansprechpartner: 
Prof. Dr. Michael Heneka
Deutsches Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
c/o Universitätsklinikum Bonn
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Klinische Neurowissenschaften
Sigmund-Freud-Straße 25
53127 Bonn
0228 287-13091
michael.heneka@dzne.de

Prof. Dr. Gabriele Doblhammer-Reiter
Deutsches Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Konrad-Zuse-Straße 1
18057 Rostock
0381 498-4393/2081-124
gabriele.doblhammer-reiter@dzne.de

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