Muskelschwäche, Sehstörungen, epileptische Anfälle – bei einigen seltenen Erkrankungen treten sie zusammen auf. Der Grund: Die „Kraftwerke“ der Zellen, die Mitochondrien, arbeiten nicht richtig – mit schwerwiegenden Folgen.
Sie sind die „Kraftwerke“ unserer Körperzellen: die Mitochondrien. Fast jede Zelle besitzt sie. Denn sie versorgen unsere Organe mit Energie. Für diese lebenswichtige Aufgabe arbeiten in den Mitochondrien mehr als 1.500 Eiweiße zusammen. Einen kleinen Teil der Eiweiße können die Mitochondrien selbstständig herstellen: Sie besitzen nämlich ihr eigenes mitochondriales Erbgut. Der Bauplan für den weitaus größeren Anteil der mitochondrialen Eiweiße befindet sich aber in den Genen des Zellkerns. Diese Eiweiße werden in der Zelle aufgebaut und anschließend in die Mitochondrien transportiert. Allgemein gilt: Kleine Veränderungen im Erbgut können dazu führen, dass Eiweiße fehlerhaft aufgebaut werden. Betreffen diese Veränderungen die Eiweiße für das Mitochondrium, kann dessen Funktion dadurch eingeschränkt und der Energiehaushalt der gesamten Zelle gestört sein. Mitochondriale Erkrankungen können in der Regel auf solche genetischen Ursachen zurückgeführt werden.
Der technologische Fortschritt hat uns geholfen, in den letzten fünf Jahren die genetischen Grundlagen bei zahlreichen mitochondrialen Erkrankungen zu klären“, sagt Professor Dr. Thomas Klopstock. Er ist der Koordinator des deutschen Netzwerks für mitochondriale Erkrankungen, kurz mitoNET. Es ist einer von zwölf Forschungsverbünden zu seltenen Erkrankungen, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert werden. Mit „technologischem Fortschritt“ meint Klopstock die modernen Sequenziermaschinen der „neuen Generation“. Sie entschlüsseln das Erbgut und machen es für die Forscherinnen und Forscher lesbar. Dauerte es vor zwei Jahrzehnten noch Jahre, kann heutzutage das menschliche Erbgut binnen weniger Wochen oder sogar Tage entziffert werden.
Revolution in der molekularen Diagnostik
Die Erforschung seltener Erkrankungen profitiert besonders von diesen modernen Sequenziermethoden. Denn seltene Erkrankungen sind größtenteils genetischen Ursprungs. Die molekulare Diagnostik mitochondrialer Erkrankungen ist dabei bisher in doppelter Hinsicht verbessert worden: Zum einen konnten alle bislang bekannten Gendefekte für mitochondriale Erkrankungen im sogenannten mitoPANEL gesammelt werden. Hier sind inzwischen mehr als 250 Gene erfasst, die einzelnen mitochondrialen Erkrankungen zugeordnet werden können. Besteht nun bei Patientinnen und Patienten der Verdacht auf eine mitochondriale Erkrankung, können genau diese Gene in einem Arbeitsdurchgang untersucht werden.
Darüber hinaus bieten die Sequenziermethoden die Möglichkeit, ganz neue krankheitsverantwortliche genetische Veränderungen zu finden. Im mitoGENE-Projekt wird dafür die gesamte Erbsubstanz von Betroffenen untersucht, die an einer mitochondrialen Erkrankung leiden. Untersucht werden hierbei allerdings nur die Teile des Erbguts, die Informationen für den Aufbau von Eiweißen enthalten. Fachleute nennen die Gesamtheit dieser Bereiche auch Exom. Das Exom von Erkrankten wird im mitoGENE-Projekt gezielt nach Veränderungen durchsucht. Mit dieser Technik können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bisher unbekannte Krankheitsgene bei mitochondrialen Erkrankungen finden. „Das Ergebnis einer diagnostischen Exom-Analyse liegt bereits nach wenigen Wochen vor. Früher musste man in solchen Fällen Gen für Gen mit herkömmlichen Sequenziermethoden abarbeiten. Das hat teilweise Jahre gedauert, war weit entfernt von Vollständigkeit und dazu noch wesentlich teurer als heutzutage“, erklärt der leitende Humangenetiker Dr. Holger Prokisch.
Krankheitsfolgen gezielter behandeln
Nach dieser Revolution in der Diagnostik mitochondrialer Erkrankungen rückt nun die Erforschung besserer Behandlungsformen in den Mittelpunkt. Dabei ist die Erkenntnis über neue Genveränderungen besonders hilfreich: So wurden beispielsweise bei einem erkrankten Kind durch Exom-Sequenzierung Veränderungen in einem Gen gefunden, das bis dato überhaupt nicht mit einer Erkrankung in Verbindung stand. Dieses Eiweiß transportiert Riboflavin, besser bekannt als Vitamin B2, vom Blut ins Gehirn. „Bei dem Kind war also der Vitamin-B2-Haushalt gestört“, erklärt Klopstock. Tatsächlich konnte durch Gabe von hochdosiertem Vitamin B2 der klinische Zustand des Kindes verbessert werden. Bei einem anderen Kind wiederum, das an einer anderen seltenen mitochondrialen Krankheit leidet, dem sogenannten Leigh-Syndrom, war es das Gen für ein Protein, das Vitamin B1 transportiert, dessen krankhafte Veränderung durch Exom-Sequenzierung gefunden werden konnte. Auch in diesem Falle konnten die Forscherinnen und Forscher helfen: Hochdosiertes Vitamin B1 konnte das Kind vor weiteren Schäden durch die Krankheit schützen.
„Zukünftig werden wir sicher noch weitere Gene finden, die Aufschluss über die unterschiedlichsten Ursachen seltener mitochondrialer Erkrankungen geben“, sagt Klopstock. „Und wir hoffen, dass wir noch mehr Ansatzpunkte für eine gezielte medikamentöse Behandlung finden werden“, fügt er hinzu.
Ihre Gesamtzahl wird auf 7.000 bis 8.000 geschätzt. Rund vier Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Menschen mit einer seltenen Erkrankung haben vieles gemeinsam: Der Weg zu einer gesicherten Diagnose ist häufig langwierig. Liegt eine Diagnose vor, stehen nicht immer passgenaue Therapien zur Verfügung. Die meisten seltenen Erkrankungen sind genetischen Ursprungs und treten bereits im Kindesalter auf. Um die Situation von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern, unterstützt das Bundesforschungsministerium interdisziplinäre wissenschaftliche Verbünde, die Ursachen von seltenen Erkrankungen und geeignete Therapien erforschen. Derzeit sind zwölf Forschungsverbünde in der Förderung. Neueste Technologien zur Genomforschung wie das Next Generation Sequencing stehen hierbei zur Verfügung. Durch die enge Zusammenarbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den deutschlandweiten Zentren für seltene Erkrankungen fließen die Resultate direkt in die Patientenversorgung ein. Unterstützt werden die Verbünde durch ein Koordinierungszentrum. Näheres zu den Krankheitsgruppen, den wissenschaftlichen Fragestellungen sowie Kontakte finden sich hier.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Thomas Klopstock
Klinikum der Universität München
Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen Klinik und Poliklinik
Ziemssenstraße 1a
80336 München
089 5160-7400
089 5160-7402
thomas.klopstock@med.uni-muenchen.dewww.mitoNET.org