September 2019

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„Die Digitalisierung wird unser Bild vom Arzt enorm verändern“

Im Interview spricht Professor Steffen Augsberg über die weitreichenden Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz (KI) und Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung.

Ärztin schaut mit Patient Computertomograph-Bilder an.

Bereits heute helfen KI-gestützte Technologien Ärztinnen und Ärzten bei Auswertung medizinischer Bilddaten. Computer vergleichen innerhalb kürzester Zeit Hundertausende von Aufnahmen miteinander, um Auffälligkeiten zu erkennen.

DLR-PT/BMBF

Ist eine Gesundheitsversorgung ohne Digitalisierung und Künstliche Intelligenz zukünftig noch denkbar?

Prof. Augsberg: Denkbar ist das natürlich, wir sind ja auch Jahrtausende ohne Penicillin ausgekommen. Wir müssen uns nur überlegen, welche Konsequenzen das haben wird. Sinnvoll ist der Verzicht mit Sicherheit nicht. Es gibt vielmehr einen normativ begründeten Druck, diese Möglichkeiten zu nutzen, für eine bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten – aber auch für eine effektivere und kostengünstigere.

Wie wird die Digitalisierung die Medizin verändern?

Sie wird zunächst einmal die Kommunikation verändern. Wir gewinnen an Schnelligkeit, denn eine E-Mail geht beispielsweise schneller als ein Brief. Die veränderte Kommunikation wird aber auch zu Problemen führen, ein Beispiel hierfür ist der berühmte Dr. Google. Die Patienten kommen mit einem „gesunden Halbwissen“, worüber sich die Mediziner beschweren. Denn sie müssen einige dieser Informationen erst einmal wieder aus den Köpfen vertreiben.

Die Digitalisierung wird aber auch die Betrachtungs- und Handlungsweise der entsprechenden Gesundheitsberufe verändern. Medizin wird nicht mehr nur im zwischenmenschlichen Kontakt stattfinden. Durch die Telemedizin wird es möglich, Menschen auch ohne unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt zu behandeln. Wir können beispielsweise Diabetikerinnen und Diabetiker oder Herzinsuffiziente dauerhaft aus der Ferne medizinisch betreuen.

Zur Person

Professor Steffen Augsberg

Professor Steffen Augsberg

Deutscher Ethikrat, Fotograf: Reiner Zensen

Steffen Augsberg ist Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seit April 2016 ist er zudem Mitglied des Deutschen Ethikrates. Für diesen wirkte er maßgeblich an der Stellungnahme „Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung“ mit. Mehr Informationen dazu finden Sie auf den Seiten des Deutschen Ethikrats: www.ethikrat.org/themen/forschung-und-technik/big-data.

Die Telemedizin macht demnach die Versorgung nicht nur effizienter, sondern auch besser?

Ja, ganz genau. In manchen Ländern können Erkrankte sogar nur über Telemedizin erreicht werden. Ich erinnere mich an ein Projekt zur psychiatrischen Hilfe in Afghanistan. Hier wurde mit Patientinnen und Patienten, die posttraumatische Erlebnisse hatten, über einen Bildschirm gesprochen. Diese Menschen hatten keine andere Möglichkeit, psychiatrische/psychologische Unterstützung zu erhalten.

E-Health (Electronic Health)

bezeichnet die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bei der Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Patienten. Dabei kommen vielfältige IKT-gestützte Anwendungen zum Einsatz, die Informationen elektronisch verarbeiten, über sichere Datenverbindungen austauschen oder Behandlungs- und Betreuungsprozesse unterstützen, etwa in der Telemedizin.

In der Telemedizin werden medizinische Leistungen in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen hinweg erbracht. Telemedizin kann die Gesundheitsversorgung der Menschen insbesondere in ländlichen Regionen verbessern und ist ein wichtiger Bereich von E-Health.

In der Gesundheitsforschung gilt die Digitalisierung als Schlüsseltechnologie. Welche Chancen sehen Sie in diesem Bereich?

Die Digitalisierung bietet die Perspektive auf neue Erkenntnis- und Behandlungsverfahren. Das betrifft vor allem die datengestützte Medizin, die die personalisierte Medizin voranbringen wird. Neue Möglichkeiten entstehen aber auch in medizinischen Berufen, die traditionell eher zu den handwerklichen Bereichen gezählt werden, etwa die Chirurgie. Das betrifft etwa die Datennutzung zur besseren OP-Planung bis hin zur Durchführung von Operationen mithilfe von Robotik.

Die Digitalisierung wird auch unser Bild vom Arzt enorm verändern. Überall dort, wo wir es mit bildgebenden Verfahren zu tun haben, beispielsweise in der Histologie oder Radiologie, ist auch für den medizinischen Laien relativ gut verständlich, dass bei einem Vergleich von tausenden – oder hunderttausenden – Aufnahmen eine KI-gestützte Technologie dem Mediziner überlegen ist.

Die KI-gestützte Bildauswertung kann auch mit der Telemedizin verknüpft werden. Möglicherweise kann ich zukünftig ein Foto von einem schwarzen Fleck auf meinem Oberarm machen und dieses entsprechend weiterleiten. Ein Computer analysiert es und gibt mir eine Rückmeldung. Mit dieser Szene sind aber auch psychologische Vorbehalte verbunden: Was mache ich, wenn wirklich ein positiver Befund vorliegt? Erhalte ich dann eine SMS „Ja, das sieht nach einem bösartigen Hautkrebs aus“? Wie können wir diese Menschen auffangen? Das werden wir diskutieren müssen.

Medizinische Geräte werden von medizinischen Fachangestellten über Computer eingestellt.

Moderne Technologien helfen beispielsweise in der Chirurgie, anspruchsvolle Eingriffe genauer zu planen und durchführen.

santypan/iStock

Ist das die Gefahr, die mit den neuen Technologien einhergeht? Der Verlust des direkten Arzt-Patienten-Kontaktes?

Auf jeden Fall, ja. Gerade unter dem Aspekt des Kostendruckes. Die Zeit, die wir durch den Einsatz von KI in der Medizin sparen, sollte daher in anderen Bereichen genutzt werden, um die zuwendungsorientierte Medizin zu stärken.

Der Datenschutz ist ein wichtiges Thema. Einerseits müssen Gesundheitsdaten gut geschützt werden. Andererseits brauchen wir möglichst viele Informationen für die Forschung.

Ich würde dem Aspekt widersprechen, dass wir möglichst viele Daten brauchen. Sondern wir brauchen eine bestimmte Anzahl an Daten. Die Erkenntnisse, die wir mithilfe der Gesundheitsdaten gewinnen können, werden nicht unweigerlich immer größer, je mehr Daten wir haben.

Gerade im Bereich der Künstlichen Intelligenz gilt, dass die Trainingsdaten entscheidend sind. Aber diese müssen qualitativ hochwertig sein und in reduzierter Menge eingesetzt werden. Wir brauchen nur genauso viele Daten, wie für den Lerneffekt notwendig sind. Nichtdestotrotz werden wir mehr Daten verwenden wollen, als das bislang der Fall ist.

Big Data sind große und komplexe Datenmengen, deren Analyse herkömmliche IT-Methoden überfordert. Als Sammelbegriff umfasst Big Data auch jene technischen Lösungen, die den Anforderungen von Big Data gewachsen sind. Sie können in riesigen Datenmengen unbekannte Zusammenhänge aufspüren und neue Erkenntnisse hervorbringen.

Data Scientists beschäftigen sich wissenschaftlich mit großen Datenmengen. Sie wenden ein breites Methodenspektrum an – darunter Verfahren der Künstlichen Intelligenz – um Daten zu analysieren und zu interpretieren.

Und wir werden nicht nur klassische Gesundheitsdaten verwenden. Alle Daten könnten zukünftig relevant werden.

Genau, das ist eines der ganz zentralen Charakteristika von Big Data. Eine Herausforderung für den Datenschutz wird es sein, dass wir die Daten zukünftig nicht mehr diesem oder jenem Lebensbereich zuordnen können. Wir haben es mit Unmengen an Daten zu tun, die in einem bestimmten Kontext und vielleicht auch zu einem bestimmten Zweck gesammelt wurden. In einem anderen Kontext können diese aber vielleicht zu ganz anderen Erkenntnissen führen. Auch Daten, die zunächst überhaupt keinen Gesundheitsbezug aufweisen, lassen dann auf einmal entsprechende Rückschlüsse zu. Das Facebook-Profil kann beispielsweise dazu genutzt werden, das Depressionsrisiko zu bestimmen. Der Gesundheitsbezug dieser persönlichen Daten entsteht erst, weil wir sie mit anderen Daten kombinieren und vergleichen.

Was bedeutet das für den Datenschutz?

Manche der herkömmlichen Schutzmechanismen greifen nicht mehr. Ein klassisches Beispiel ist die Zwecksetzungsvorstellung. Sie setzt voraus, dass wir in dem Moment, in dem wir die Daten erheben, bereits wissen, wozu wir sie nutzen wollen. Das steht im Widerspruch zu der gerade beschrieben Vorstellung von Big Data. Wir müssen uns klarmachen, dass wir den Datenschutz anpassen müssen, um die Chancen der Digitalisierung und der KI nutzen zu können. Wenn wir die Zwecksetzungsvorstellung radikal durchführen, werden wir wahrscheinlich keine relevante Big-Data-Anwendung mehr haben.

Mithilfe von KI werden wir zukünftig bereits lange vorher wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir an welcher Krankheit erkranken werden. Wird das unser Verständnis von Gesundheit verändern?

Das wird in ganz massiver Weise geschehen, das glaube ich auch. Und zwar sowohl auf einer individuellen als auch auf einer kollektiven Ebene.

Auf der individuellen Ebene wird es dabei bleiben, dass es ein Recht auf Nichtwissen gibt. Ich kann mich bereits heute dagegen entscheiden, bestimmte Risikofaktoren zu kennen.

Interessanter finde ich die kollektive Ebene. Die Solidarität der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) gerät in Gefahr, wenn wir solche präzisen Aussagen über zu erwartende Krankheiten oder Krankheitsverläufe treffen können. Sie muss meiner Meinung nach aber nicht daran zerbrechen. Bereits heute beruht das GKV-System auf einer Solidarität auch entgegen besserer Erkenntnis, das könnte auch das Modell der Zukunft sein. Schon jetzt ist es Teil der Solidarität in der GKV, dass wir bestimmte Vorerkrankungen und bestimmte Risikofaktoren bewusst nicht wahrnehmen.

Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Wir können uns entscheiden, beispielsweise Erkenntnismöglichkeiten über Risikofaktoren bewusst nicht in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das ist für mich ein ganz zentrales ethisches Problem: Wie gehen wir mit solchen Erkenntnissen um? Wer entscheidet darüber, welche Informationen gewonnen werden? Und wer, welche ausgewertet und verwendet werden dürfen? Wir werden uns in der Zukunft damit auseinandersetzen müssen, wie wir nicht nur mit Ungewissheiten, sondern auch mit gesellschaftlich problematischen Gewissheiten umgehen werden.

KI wird uns zukünftig bei vielen Entscheidungsprozessen unterstützen. Wie können wir sicherstellen, dass es trotzdem wir sind, die diese Entscheidungen treffen?

Das ist ein weiteres zentrales Problem. Ist KI eigentlich ein Unterstützungs- oder ein Ergänzungsprozess? Ich bin sehr davon überzeugt, dass die Unterstützung notwendig ist, aber nicht der eigentliche Sinn der Künstlichen Intelligenz. Im Grunde genommen wird es doch erst dann spannend, wenn wir sagen: Wir können das nicht mehr nachvollziehen. Wenn KI Dinge kann, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen nicht mehr – oder zumindest nicht in der gleichen Geschwindigkeit – möglich sind. KI ist, wenn sie vernünftig eingesetzt wird, vor allem eine Verbesserung der menschlichen Intelligenz. Damit sind Risiken verbunden, aber auch enorme Chancen; wir müssen beides gegeneinander austarieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

ELSA – mehr als eine ethische Frage

Von Philosophie bis Lebenswissenschaften: ELSA fördert den interdisziplinären Dialog.

Von Philosophie bis Lebenswissenschaften: ELSA fördert den interdisziplinären Dialog.

Thinkstock/plustwentyseven

Die Gesundheitsforschung berührt häufig besonders sensible Lebensbereiche. Aufgabe der ELSA-Forschung ist es, mögliche ethische, rechtliche und soziale Fragen im Zusammenhang mit neuen Therapien und der Nutzung innovativer Technologien von Anfang an mitzudenken.

Von digital vorliegenden Röntgen- und MRT-Bildern über die Telemedizin bis hin zur elektronischen Patientenakte: Die Digitalisierung und die Technologien, die sich auf selbstlernende Algorithmen stützen, haben einen nachhaltigen Wandel in der Gesundheitsforschung und -versorgung eingeläutet. Nicht nur die Art und Weise, wie Forschung und Wissenschaft betrieben werden, sondern auch Diagnose, Behandlung und Pflege von Patientinnen und Patienten werden sich dank innovativer Technologien deutlich wandeln.

Technisch machbar, aber auch gesellschaftlich gewünscht?

Immer leistungsfähigere Analysewerkzeuge werden die rasant wachsende Menge an elektronischen Daten aus der biomedizinischen Forschung und der medizinischen Versorgung immer besser erschließen können. Der Einsatz Künstlicher Intelligenz wird beides weiter beflügeln, doch fordert die Verwendung von Big Data auch unser gesellschaftliches Werteverständnis heraus. Wie zum Beispiel werden gesundheitsrelevante persönliche Daten geschützt? Wie kann ein verantwortungsvoller Umgang mit ihnen sichergestellt werden? Und wird denn alles, was technisch machbar ist, gesellschaftlich auch gewünscht und mitgetragen?

Fragen wie diese greift die ELSA-Forschung auf, die sich mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten („Ethical Legal and Social Aspects“) der modernen Lebenswissenschaften auseinandersetzt. Ein besonderes Kennzeichen der ELSA-Forschung ist dabei die enge Zusammenarbeit zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften und den Lebenswissenschaften unter Einbindung und im Dialog mit der Öffentlichkeit. Mit einer im November 2018 veröffentlichten Förderrichtlinie nimmt das BMBF die Themen Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz in der Gesundheitsforschung und -versorgung besonders in den Blick. Ziel der Forschungsprojekte soll es sein, wissenschaftlich-technologisch fundierte Analysen und Bewertungen zu erarbeiten und Handlungsoptionen für die betroffenen Akteure aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft aufzuzeigen.

ELSA-Forschung

Zunächst als Bestandteil der Forschung zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms gestartet, hat sich die ELSA-Forschung zu einem eigenständigen Förderschwerpunkt entwickelt, den das BMBF mit jährlich rund 4,5 Millionen Euro unterstützt. Diese Mittel kommen einzelnen Forschungsprojekten, aber beispielsweise auch der Nachwuchsförderung zugute.

Ansprechpartner:
Prof. Steffen Augsberg
Justus-Liebig-Universität Gießen
Professur für Öffentliches Recht
Hein-Heckroth-Straße 5
35390 Gießen
Steffen.Augsberg@recht.uni-giessen.de