Die Nadel höher ansetzen? Neue anatomische Erkenntnisse für nicht spezifische Rückenschmerzen

Neue anatomische Erkenntnisse bei Ratten könnten Patienten mit nicht spezifischen Kreuzschmerzen zugute kommen, bei denen Ärzte keine krankhaften Veränderungen der Wirbelsäule oder der Bandscheiben feststellen können.

„Die Ratte hat zwar eine längere Wirbelsäule als der Mensch, aber die grundlegenden Mechanismen sind bei allen Wirbeltieren ähnlich und ließen sich bisher weitgehend auf den Menschen übertragen“, erklärt Projektleiter Professor Siegfried Mense. Den Untersuchungen zufolge werden Schmerzreize aus der tiefen Rückenmuskulatur des Lendenwirbelsäulenbereichs in höher gelegenen Abschnitten des Rückenmarks verarbeitet als bisher angenommen. Die Wissenschaftler planen nun entsprechende Untersuchungen beim Menschen, denn die Ergebnisse sind für die Behandlung von Kreuzschmerzen äußerst relevant. Ärzte müssten demnach bei einer Nervenblockade Betäubungsmittel auch oberhalb der schmerzenden Region spritzen.


Dogma der Nervenversorgung gerät ins Wanken
„Über die zugrunde liegenden Mechanismen einer der häufigsten und teuersten Erkrankungen unserer Gesellschaft wissen wir praktisch nichts“, erklärt Mense. 85 Prozent der Patienten mit Kreuzschmerzen leiden unter sogenannten nicht spezifischen Beschwerden. Seit einigen Jahren gehen Experten davon aus, dass die Schmerzursache auch in der tiefen Rückenmuskulatur zu finden ist. Die Muskelschmerzen wurden bisher jedoch kaum wissenschaftlich analysiert.

Forscher von der Universität Heidelberg führten mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) Untersuchungen an narkotisierten Ratten durch, um den weitverbreiteten Beschwerden auf den Grund zu gehen. Sie spritzten den Nagern einen blauen Farbstoff in die tiefe Rückenmuskulatur. Die Nervenenden in den Muskeln nahmen die Farbe auf und transportierten sie zu den Nervenzellkörpern, die im Wirbelkanal in den Spinalganglien liegen. Auf der Höhe jedes Wirbelkörpers treten die Nervenfasern des Rückenmarks aus dem Wirbelkanal aus und bilden die Spinalnerven. Jedem Wirbelkörper ist ein Spinalnervenpaar mit den dazugehörigen Spinalganglien zugeordnet (Segment).

Anhand der Verteilung der blauen Farbablagerungen in den Zellkörpern konnten die Wissenschaftler feststellen, wo die Nervenimpulse verarbeitet werden. Farbstoff-Injektionen in Höhe des fünften Lendenwirbels (L5) führten zu einer Blaufärbung in allen fünf Spinalganglien der Lendenwirbelsäule (L1-L5). Am intensivsten färbte sich dabei das Ganglion von L3 und nicht das von L5. Das widerspricht dem gültigen Dogma einer segmentalen Nervenversorgung der tiefen Rückenmuskulatur. Bei einer solchen segmentalen Versorgung ist jeder Spinalnerv mit seinem Ganglion für die tiefe Rückenmuskulatur im Bereich des entsprechenden Wirbelkörpers zuständig - L5 also für die Muskeln im Bereich des fünften Lendenwirbels, L4 für die Muskeln auf Höhe des vierten Lendenwirbels usw.

Bei Muskelschäden ändert sich die Verschaltung im Rückenmark
In weiteren Tierexperimenten zeigten die Anatomen, dass eine chronische Schädigung der tiefen Rückenmuskulatur die Schmerzverarbeitung im Rückenmark verändert. Von den Spinalganglien ziehen die Nervenfasern ins Rückenmark, wo sie auf weitere Nervenzellen umschalten. Die Erregung aus der verletzten Rückenmuskulatur breitete sich im Rückenmark auf Segmente aus, die normalerweise nicht auf Reize aus der Kreuzregion reagieren. Diese Nervenverschaltungen könnten erklären, warum sich die Beschwerden bei vielen Rückenschmerz-Patienten auf andere Körperregionen ausdehnen. Die Forscher wollen nun mit der funktionellen Kernspintomographie klären, ob die an Ratten gewonnenen Befunde auch für Menschen gelten. Denn das hätte direkte therapeutische Konsequenzen für Patienten mit Kreuzschmerzen: Betäubungsmittel und Cortisonspritzen, die Ärzte in die Rückenmuskulatur, Zwischenwirbelgelenke oder in die Umgebung der Rückenmarksnerven injizieren, würden dann besser helfen, wenn Mediziner die Nadel künftig höher ansetzten. Um die Umschaltungen im Rückenmark zu verhindern, sollten Patienten wie Gesunde Über- und Fehlbelastungen der tiefen Rückenmuskeln vermeiden.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Siegfried Mense
Universität Heidelberg
Institut für Anatomie und Zellbiologie
Im Neuenheimer Feld 307
69120 Heidelberg
Tel.: 06221 54-4193
Fax: 06221 54-6071
E-Mail: mense@ana.uni-heidelberg.de