In Deutschland leben rund 130.000 blinde Menschen. Jeder vierte Betroffene leidet unter einer degenerativen Netzhauterkrankung. Ein neu entwickelter Netzhautchip ermöglicht es ihnen jetzt, wieder Konturen zu erkennen.
Er ist nur dreimal drei Millimeter groß, aber für die Betroffenen öffnet er nach Jahren der Blindheit ein neues Fenster zur visuellen Welt. Der Chip wird bei einer Operation ins Auge implantiert. Dort verwandelt er Licht in elektrische Signale, die ans Gehirn weitergeleitet werden, und ersetzt damit die Funktion der Sehzellen, die im Verlauf von degenerativen Netzhauterkrankungen Stück für Stück abgestorben sind. „Wir versuchen, die Sprache der Netzhaut besser zu verstehen. Wenn wir diese Sprache beherrschen, können wir dem Chip beibringen, mit dem Gehirn zu kommunizieren wie ein gesundes Auge“, sagt Daniel Rathbun. Der Neurowissenschaftler gehört zu dem Team des Universitätsklinikums Tübingen, das das Implantat im Forschungsverbund mit anderen Universitäten entwickelt hat und dabei vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wurde.
Die Patientinnen und Patienten verlieren meist erst als Erwachsene ihr Augenlicht, der Prozess kann sich über einen langen Zeitraum hinziehen. Je nach Erkrankung ist der Verlauf anders: So engt sich bei Retinitis pigmentosa das Sehfeld von außen ein, bis praktisch nichts mehr übrig ist, während bei altersbedingter Makuladegeneration die Sehschärfe zuerst in der Mitte des Sehfeldes schlechter wird. „Viele Betroffene müssen über Jahrzehnte erleben, wie ihr Sehvermögen immer mehr nachlässt. Zum Schluss der Erkrankung können sie gar nichts mehr sehen, nicht einmal mehr Helligkeit von Dunkelheit unterscheiden“, erklärt Rathbun. „Viele Patienten empfinden das wie einen Trauerprozess, als hätten sie einen nahestehenden Angehörigen verloren.“ Zudem fällt es Menschen, die erst im Erwachsenenalter erblinden, häufig besonders schwer, die nötigen Hilfstechniken wie die Blindenschrift Braille zu erlernen.
Wie ein unscharfer Schwarz-Weiß-Film
Bisher wurde der Tübinger Chip bei rund 50 Erblindeten eingesetzt. Die Betroffenen können nun wieder schemenhafte Umrisse erkennen. „Sie beschreiben ihre neue Seherfahrung mit einem unscharfen und flimmernden Schwarz-Weiß-Film“, sagt Rathbun. „Dabei können sie ungefähr ein Quadrat von der Größe einer Faust bei ausgestrecktem Arm sehen.“ Die Orientierung im Raum ist wieder möglich. Sie können Gesichter wahrnehmen und somit wieder besser Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Im besten Fall erkennen sie Buchstaben in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks aus einer Entfernung von 20 Zentimetern und können daraus Wörter zusammensetzen. „Für jemanden, der lange blind war, ist das sehr viel“, sagt Rathbun. So beschrieb einer der Patienten, dass er wieder das Lächeln von Menschen wahrnehmen könne. Ein anderer konnte große Schriftzüge auf Werbetafeln lesen.
„Man kann sich das Implantat ähnlich wie eine Handykamera vorstellen“, erklärt Rathbun. Das Implantat besteht allerdings nur aus einem Quadrat von 40 mal 40 Elektroden, die den Sehnerv stimulieren. Die Chipträger können also maximal diese 1.600 Lichtpunkte unterscheiden und daher bislang nur Umrisse erkennen. Die ersten Handys um die Jahrtausendwende hatten bereits deutlich mehr Pixel. Das gesunde Auge verfügt dagegen sogar über rund 1,2 Millionen Zellen, die die visuellen Informationen an das Gehirn weitergeben. Diese Netzhautzellen unterteilen sich wiederum in 20 verschiedene Arten, die jeweils für verschiedene Informationen zuständig sind, wie die Wahrnehmung einzelner Farben, Bewegungen oder Veränderungen in der Lichtstärke. Das Forschungsteam hat herausgefunden, dass diese Zellen unterschiedliche Signale für die Weiterleitung ans Gehirn nutzen. Der Chip kann diese Signalvielfalt momentan nicht erzeugen. Deshalb entspricht das Sehen mithilfe des Chips nicht dem normalen Sehen.
Rathbun und seine Team wollen daher weiterforschen, um diese Signale allesamt zu entschlüsseln und sie in die bildverarbeitende Elektronik im Chip zu übertragen, sodass dieser eine größere Vielfalt an Lichtreizen umwandeln und an das Gehirn weiterleiten kann. „Wenn uns dies gelingt, könnte der Chip die volle Bandbreite an Informationen weitergeben“, erklärt Rathbun. „Wir haben alle denselben Traum: Wir möchten die Signalübertragung des Chips so gut machen, dass der Patient den Unterschied nicht mehr spüren kann.“
In der Systembiologie entschlüsseln die Forscherinnen und Forscher komplexe biologische Vorgänge durch eine Kombination von Experimenten und mathematischen Modellen. Dafür arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen wie Biologie, Medizin, Physik und Mathematik zusammen. Im Innovationswettbewerb wird ein breites Spektrum von Themen gefördert: von der Gesundheitsforschung über Welternährung bis hin zur Energieversorgung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Weiterentwicklung der Ergebnisse aus der Grundlagenforschung für die Anwendung. Darüber hinaus stärkt die Fördermaßnahme den wissenschaftlichen Nachwuchs durch eine gezielte Förderung von jungen Systembiologen wie Dr. Daniel Rathbun vom Universitätsklinikum Tübingen.
Ansprechpartner:
Dr. Daniel Rathbun
Universitätsklinikum Tübingen
Institut für Augenheilkunde
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