Durch dick und dünn - Prävention von Essstörungen bei Teenagern

Ein Interview mit Dr. Uwe Berger, Psychologe am „Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie“ des Universitätsklinikums Jena, zu Präventionsprogrammen für Essstörungen

Essstörungen bei Teenagern sind auf dem Vormarsch: Schon in der Grundschule ist jedes zweite Mädchen unzufrieden mit seiner Figur. Der Psychologe Dr. Uwe Berger und sein Team vom „Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie“ der Uniklinik Jena haben mehrere Programme entwickelt, die Mädchen und Jungen dazu motivieren sollen, ihr Essverhalten zu überdenken und wieder selbstbewusst mit ihrer eigenen Figur umzugehen.


Herr Dr. Berger, Sie sind Initiator dreier Präventionsprogramme für Essstörungen, die für die Klassen Sechs und Sieben konzipiert wurden. Seit wann und an wie vielen Einrichtungen finden diese Programme statt?
Das Pilotprojekt wurde im Jahr 2004 mit Unterstützung des Thüringer Kultusministeriums und der Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung eingeführt. Wir haben an 20 Schulen mit dem Präventionsprogramm PriMa begonnen, das steht für „Primärprävention Magersucht“ und richtet sich an Mädchen der 6. Klassen. Nach den guten Erfahrungen mit PriMa entwickelten wir das Parallelprogramm TOPP für Jungen zur Vorbeugung von Bewegungsmangel und Übergewicht - bei Schülern der 6. Klasse eine stark verbreitete Gefahr. Die Abkürzung TOPP steht für „Teenager ohne pfundige Probleme“. Für die 7. Klasse gedacht ist das Folgeprogramm Torera (spanisch für „Stierkämpferin“), das sich mit den Themen Bulimie, Essanfälle und Übergewicht auseinandersetzt. Mittlerweile engagieren sich rund 150 Schulen in Thüringen im Rahmen unserer Programme für die Prävention von Essstörungen. Unser Ziel ist eine flächendeckende Verbreitung der Präventionsangebote mithilfe des Heidelberger Präventionszentrums unter der Leitung von Dr. Andreas Schick.

Wieso führen Sie die Programme gerade an Schulen durch? Besteht hier nicht die Gefahr, dass sich die Schülerinnen und Schüler „befangen“ fühlen?
In der Schule verbringen die Kinder die meiste Zeit. Sie reden, lästern, tauschen sich aus. Auch über Essgewohnheiten und Gewichtsprobleme. Auch wir dachten anfangs, dass der Raum für eine so sensible Thematik vielleicht zu öffentlich ist. Aber durch die getrennten Programme für Mädchen und Jungen in den 6. Klassen fühlten sich vor allem die Mädchen wohler und konnten offener über ihre Gedanken sprechen. Die Angebote wurden schnell und problemlos von allen Kindern angenommen.

Sie möchten mit den Präventionsmaßnahmen bereits bei Kindern in der Grundschule beginnen. Wieso so frühzeitig?
Essstörungen erreichen meistens in der Pubertät ihren Höhepunkt. Das Aussehen wird wichtiger und das Ansehen bei anderen wird immer entscheidender. Deshalb ist es wichtig, bereits vorher mit Präventionsprogrammen zu beginnen. Schon in der Grundschule ist jedes zweite Mädchen und jeder dritte Junge unzufrieden mit der eigenen Figur. Jedes fünfte Mädchen hat mit zehn Jahren bereits eine Diät hinter sich. Und die Rate krankhaften Übergewichts, sogenannter Adipositas, hat sich in den vergangenen 15 Jahren bei Jungen und Mädchen verdoppelt. Deshalb ist unser nächster Projektschritt, die Präventionsmaßnahmen auch an Grundschulen zu implementieren. Die Präventionsprogramme sollen den „klassischen“ Formen der Essstörung vorbeugen.

Welche sind das und wie greifen die Präventionsmaßnahmen hier ein?
Bei allen Essstörungen besteht das Problem darin, dass die Krankheit zu einem Teil des Lebens der Betroffenen geworden ist. Essstörungen stellen in den Augen der Mädchen und Jungen eine Möglichkeit der Kontrolle über das eigene Leben dar, wo Schulprobleme, Spannungen in der Familie oder seelische Konflikte Unsicherheit im Umgang mit sich selbst und anderen hervorrufen. Der Fokus bei PriMa liegt auf der Prävention von Magersucht. Die Magersucht ist die erschreckendste Essstörung, denn die Mädchen können in relativ kurzer Zeit lebensbedrohlich abmagern. Das führt zu Mangelerscheinungen wie Herz-Kreislauf- Beschwerden oder Nierenschäden und im schlimmsten Fall zum Tod.  Bulimie tritt ungefähr dreimal so häufig auf wie Magersucht. Allerdings ist sie meist nicht sichtbar, da die Betroffenen nicht abmagern. So dauert es im Schnitt sieben bis zehn Jahre, bis sie eine Therapie beginnen. 50 Prozent der Diagnosen sind Mischformen oder nicht genauer definierbar. Früher hat man die Krankheitsbilder Essstörungen und Adipositas, das heißt Fettleibigkeit, streng getrennt voneinander betrachtet. Jetzt erkennt man den Zusammenhang. Zum Beispiel sind die Grenzen des Binge Eatings, so nennt man regelmäßige unkontrollierbare Fressattacken, zu Bulimie und Adipositas fließend. Schätzungsweise ein Drittel der Menschen mit Adipositas leidet an diesen Fressanfällen. Das Projekt Torera, an dem die Psychologinnen Bianca Bormann und Christina Brix maßgeblich mitwirkten, wird seit September 2005 für Mädchen und Jungen der siebten Klassen durchgeführt und setzt genau hier an: Dem Problemkreis Bulimie, Fressattacken und Adipositas soll vorgebeugt werden.

Wie sieht das Programm bei TOPP, dem Programm für Jungen, aus?
Das Programm TOPP, das von der Psychologin Melanie Sowa entwickelt wurde, soll vor allem sozialem Rückzug und Frustessen bei Jungs vorbeugen. Natürlich sollen die Jungs erst einmal lernen, welche Art der Ernährung und körperlichen Aktivität gut und gesund für sie sind. Das geschieht zunächst mittels Selbstreflexion anhand von großformatigen Postern. Das eigene Verhalten wird dadurch bewusst gemacht und Alternativen zu ungesunden Gewohnheiten aufgezeigt. Daneben ist es aber auch wichtig, praktisch zu üben. So sind verschiedene Bewegungselemente ins Programm eingebaut. Spielerische Elemente wie ein Quiz zu versteckten Dickmachern oder ein Brettspiel zur Ernährungspyramide sind zudem wichtig, um die Aktivität und Aufmerksamkeit der Jungs zu fördern. Poster sind auch das zentrale Element bei PriMa und Torera: Dabei arbeiten wir mit dem Prinzip des Gegensatzes, in der Psychologie „kognitive Dissonanz“ genannt. Auf den Postern sind zwei Darstellungen zu sehen, die nicht zueinander passen: ein strahlendes, glückliches, manchmal „cooles“ Mädchen (verkörpert durch eine Barbie-Puppe) und daneben das sehr eindrückliche Zitat einer Magersüchtigen. Dadurch, dass ein Widerspruch zwischen der heilen Welt und dem Zitat hervorgerufen wird, entsteht eine Dissonanz und damit eine hohe Aufmerksamkeit. Der Lehrer greift die Wahrnehmungen der Mädchen zu den Postern auf und lässt sie darüber diskutieren, was sie sehen. Durch diese Selbstreflexion lässt sich erreichen, dass die Mädchen zu eigenen, manchmal neuen Einsichten über ihr eigenes Essverhalten und ihre Einstellung zum Schlanksein kommen. Bei Torera werden vor allem emotionale Probleme in der Familie oder mit Gleichaltrigen durch verschiedene Arten von Rollenspielen erlebbar und damit veränderbar gemacht. Letzter Schritt des Programms ist auch ein Schüler-Theaterstück, in dem von einem magersüchtigen Mädchen erzählt wird. Dadurch werden die Schüler nochmals auf andere Art zur Reflexion mit dem Thema Essstörungen angeregt.

Die Theorie ist das eine, aber was konnten Sie mit den Präventionsprogrammen bisher erreichen?
Ich denke, die Ergebnisse unserer Evaluationsstudien mit über 2.500 beteiligten Mädchen geben uns recht: Durch die PriMaÜbungen normalisierte sich das Essverhalten bei gut der Hälfte der vorher gefährdeten Mädchen, außerdem verbesserten sich Wissen und Einstellungen zu gesunder Ernährung und Essstörungen und die Wertschätzung des eigenen Körpers. Die Wirksamkeit von TOPP wurde in einer Studie mit 960 Jungen nachgewiesen: TOPP unterstützt demnach die Entwicklung vom „Stubenhocker“ zum aktiven und selbstbewussten Jugendlichen. Die Jungen sind motiviert, mehr Bewegung in ihren Alltag einzubauen, sie lernen den selbstbewussten Umgang mit Kritik an ihrer eigenen Figur, reflektieren den Umgang mit übergewichtigen Klassenkameraden und stärken dadurch ihr soziales Verhalten.

Ansprechpartner:
Dr. Uwe Berger
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Steubenstraße 2
07740 Jena
Tel.: 03641 93-7790
Fax: 03641 93-7794
E-Mail: Uwe.Berger@med.uni-jena.de