Forschende des Universitätsklinikums Würzburg entwickeln ein Tiermodell, mit dessen Hilfe sie die Ursachen einer schweren Bewegungsstörung untersuchen. Die Ergebnisse liefern Hinweise, wie dem Ausbruch der Krankheit vorgebeugt werden könnte.
Dystonien (Griechisch: fehlregulierte Spannung) sind Bewegungsstörungen. Die Folge: Betroffene leiden unter unwillkürlichen krampfhaften Bewegungen und Fehlhaltungen. Die Ausprägung ist sehr vielfältig. In schweren Fällen kann eine Dystonie den ganzen Körper erfassen. Oft ist aber nur ein Körperteil betroffen, beispielsweise die Hand. So wie bei dem Komponisten Robert Schumann (1810–1856), der eigentlich Pianist werden wollte. Doch eine Dystonie beendete seine Karriere, und er verlegte sich auf das Komponieren.
So unterschiedlich sie sind – alle Dystonie-Formen haben wahrscheinlich eine gemeinsame Ursache: Jene Hirnregionen, die unsere unbewussten Bewegungen koordinieren, arbeiten fehlerhaft. Dystonien sind also hinsichtlich ihrer Ursache keine rein muskulären, sondern neurologische Störungen.
In der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg behandelt Privatdozent Dr. Chi Wang Ip Dystonie-Patientinnen und -Patienten unter anderem mit Botulinumtoxin, auch bekannt als Botox. In der richtigen Dosis gespritzt, entspannt das von Bakterien produzierte Nervengift die Muskulatur und reduziert die Krämpfe. „Gift ist eben immer eine Frage der Dosis“, so Ip. Die Wirkung des Botulinumtoxins kann monatelang anhalten. Lässt sie nach, wird es erneut gespritzt. So können Medizinerinnen und Mediziner jedoch nur die Symptome lindern – eine Heilung ist bislang noch nicht möglich. Um Patientinnen und Patienten in Zukunft gezielter therapieren zu können, erforschen Oberarzt Ip und sein Team die Ursachen und Mechanismen der Dystonien. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert ihre Arbeit in dem Verbund DYSTRACT zur Erforschung und Behandlung dystoner Erkrankungen.
Ursachen behandeln statt nur Symptome lindern
„Wir entwickeln ein Tiermodell, um den möglichen Ursachen der Dystonie auf den Grund zu gehen. Auf der Basis der neuen Erkenntnisse sollen dann in einem zweiten Schritt bessere Therapien entwickelt werden“, so Ip. Im Fokus seiner Arbeit steht die sogenannte idiopathische Torsionsdystonie, kurz Dystonie Typ 1 oder DYT1 genannt. Sie gilt als die häufigste und schwerste Form der vererbbaren Dystonien und zählt zu den seltenen Erkrankungen: Von 200.000 Menschen ist einer betroffen. Die Symptome beginnen bereits im Kindesalter, meist in einem Arm oder einem Bein. Oft verdrehen die Kinder ihre Hände und Finger in schraubenartigen Bewegungsmustern. Zumeist breitet sich die Dystonie auch auf andere Bereiche des Körpers aus. „Menschen, die an einer Dystonie erkranken, sind gesellschaftlich stark stigmatisiert. Daher wollen wir gerade bei der früh einsetzenden DYT1 die Therapiemöglichkeiten für Kinder verbessern“, so Ip.
Viele Dystonie-Patientinnen und -Patienten berichteten in der Würzburger Botulinumtoxin- und Bewegungsstörungsambulanz davon, dass sie nach einem bestimmten Ereignis erkrankten, oft nach einem körperlichen Trauma. So berichtete beispielsweise ein Patient, dass sich nach einer Verletzung des Mundes beim Trompetespielen eine Dystonie im Mundbereich entwickelt habe. „Von DYT1 wissen wir, dass nur 30 bis 40 Prozent der genetisch vorbelasteten Menschen auch wirklich eine Dystonie entwickeln, obwohl alle dieselbe genetische Veränderung tragen. Warum werden einige krank, die anderen aber nicht? Wir vermuten, dass äußere Einflüsse an der Auslösung von Dystonien beteiligt sind“, erläutert Ip. Diese Hypothese überprüfen die Würzburger Forscherinnen und Forscher an genetisch veränderten Mäusen. Deren genetische Veränderung betrifft das gleiche Gen, das auch bei DYT1-Patientinnen und -Patienten verändert ist. Es handelt sich um das Gen TOR1A, das den Bauplan eines Proteins codiert. Dessen genaue Funktion ist noch nicht bekannt. Forschende vermuten jedoch, dass es dabei hilft, andere Proteine in der Zelle korrekt zu falten und/oder abzubauen.
Interessanterweise erkranken DYT1-Mäuse nicht an Dystonie – sie zeigen normalerweise keine Krankheitssymptome. Um zu prüfen, ob ein Trauma die Krankheit auslösen kann, wurde der Ischiasnerv der Tiere eingedrückt und in seiner Funktion beeinträchtigt. Tatsächlich gelang es Ip und seinem Team so erstmals, eine dystonieähnliche Bewegungsstörung bei Mäusen auslösen. Sie analysierten die Bewegungsabläufe der Tiere mit einer computergestützten Ganganalyse und entwickelten eine Skala für den Schweregrad der Dystonie.
Seit 2003 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung Netzwerke, die sich der Erforschung von Ursachen und der Entwicklung möglicher Therapieansätze bei spezifischen seltenen Erkrankungen widmen. Für die Patienten und deren Familien hat diese Grundlagen- und Therapieforschung einen sehr hohen Stellenwert. Daher verfolgt das Bundesministerium für Bildung und Forschung auch weiterhin die Förderlinie „Forschung für seltene Erkrankungen“. Die vom BMBF 2016 positiv beschiedenen Forschungsverbünde arbeiten zu spezifischen Erkrankungsgruppen wie z. B. Dystonien, neuromuskulären Erkrankungen oder primären, also angeborenen Immundefekten. Die Verbünde organisieren sich in einem Sprecherrat, um übergreifende Forschungsfragen zu erörtern und ihre Ergebnisse auch einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Hierbei unterstützt sie ein Koordinierungszentrum.
Mehr Informationen: www.research4rare.de
Lässt sich ein Ausbruch der Dystonie verhindern?
Ips Team betrachtete den Dopaminstoffwechsel im Gehirn der Mäuse genauer. Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des Nervensystems. Ein Transportprotein stoppt dessen Wirkung, indem es den ausgeschütteten Botenstoff wieder in die Zellen aufnimmt. Diese Funktion könnte in DYT1-Patientinnen und -Patienten gestört sein. Dafür ist möglicherweise das defekte DYT1-Genprodukt verantwortlich.
Ips Arbeitsgruppe fand Hinweise für einen Zusammenhang zwischen dem Botenstoff und der Entstehung einer Dystonie. So zeigten DYT1-Mäuse nach dem Auslösen der Dystonie erhöhte Dopaminkonzentrationen. Zudem ließ sich der Schweregrad der Dystonie modulieren, indem der Dopamingehalt im Gehirn der Mäuse verändert wurde. Dazu erhielten die Mäuse eine Vorstufe des Botenstoffs, die im Gehirn zu Dopamin umgewandelt wird. „Diese Ergebnisse geben uns wertvolle Hinweise für neue Behandlungsoptionen. Möglicherweise können wir den Ausbruch der Krankheit bei genetisch vorbelasteten Kindern verhindern, indem wir erhöhten Dopaminspiegeln frühzeitig entgegenwirken“, so Ip. Aktuell arbeitet das Würzburger Team gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Tübingen, Kanada und aus den USA, um noch mehr über die molekularen Veränderungen im Gehirn zu erfahren, die mit Dystonie-Entstehung zusammenhängen.
Am 28. Februar 2017 jährt sich der Tag der seltenen Erkrankungen zum zehnten Mal, diesmal unter dem Motto: „Forschung hilft heilen!“ Allein in Deutschland leben rund vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung; europaweit geht man von etwa 20 Millionen Menschen aus. Viele der zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen sind noch nicht verstanden, da ca. 80 Prozent der seltenen Erkrankungen genetischen Ursprungs sind. Daher gestaltet sich die Ursachenforschung zuweilen auch sehr zeit- und kostenintensiv. Viele Akteure müssen davon überzeugt werden, dass sich der Einsatz für seltene Erkrankungen „lohnt“.
Erfreulich ist, dass immer mehr europäische Staaten erkennen, dass der Einsatz für Menschen mit seltenen Erkrankungen ein Gebot der Stunde ist. Auch gehen immer mehr grenzüberschreitende Projekte an den Start: Gerade bei Erkrankungen mit geringen Fallzahlen sind Ärztinnen und Ärzte sowie Forscher angehalten, sich international zu vernetzen und eng miteinander zu kooperieren. Hier setzt beispielsweise das europäische Forschungsprojekt E-Rare an: Derzeit arbeiten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus 17 europäischen Staaten gemeinsam an der Erforschung seltener Erkrankungen. Auch die neue Initiative der Europäischen Referenznetzwerke bringt Kliniken, Arztinnen und Ärzte sowie Forschende von Estland bis Portugal zusammen, um gemeinsam die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen zu verbessern und die zugrunde liegenden Mechanismen der Krankheiten besser zu verstehen.
Die nächsten zehn Jahre sollten intensiv dazu genutzt werden, Forschung und Therapieentwicklung im Interesse der Patienten deutschlandweit und international voranzutreiben.
Mehr Informationen: www.rarediseaseday.org
Ansprechpartner:
Priv.-Doz. Dr. Chi Wang Ip und Prof. Dr. Jens Volkmann
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