Das „Netzwerk Universitätsmedizin“ (NUM) wurde 2020 zur Bündelung von Forschungsaktivitäten in der Covid-19-Pandemie ins Leben gerufen. Prof. Dr. Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Berliner Charité, blickt zurück und auf die nächste Pandemie.
In der Geschichte der deutschen Universitätsmedizin stellt das NUM einen Meilenstein dar – was ist das Besondere?
Mit dem NUM gibt es zum ersten Mal auf nationaler Ebene eine Plattform, auf der die gesamte deutsche Universitätsmedizin zusammenarbeitet. Das reicht von der abgestimmten Datenerhebung für große wissenschaftliche Fragestellungen bis zur gemeinsamen Erarbeitung von praktischen Handlungsempfehlungen, etwa in der Palliativmedizin. Dabei fließen die wissenschaftlichen Erkenntnisse direkt zurück in die Versorgung von Patientinnen und Patienten. Die Forschungsaktivitäten des NUM laufen somit eng verzahnt mit der Klinik. Diese enge Verzahnung von Forschung und Versorgung ist ein Alleinstellungsmerkmal.
Das NUM soll Expertise, Kompetenzen und Ressourcen im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie bündeln. Welche Fortschritte sind dank koordinierter Forschungsanstrengungen erzielt worden?
Kooperation auf nationaler Ebene braucht Infrastruktur, die vor dem Start des NUM nicht da war. Das fängt schon damit an, dass Menschen plötzlich intensiv zusammenarbeiten müssen, die sich vorher nicht kannten. Hier haben wir in wenigen Monaten ohne Planungsvorlauf und mitten in einer Pandemie enorme Aufbauarbeit geleistet. Wir haben eine klinische Kohortenplattform gestartet, die uns dank sehr differenzierter Daten und einer großen Zahl untersuchter Patientinnen und Patienten ein deutlich besseres Verständnis von Covid-19 und Long Covid ermöglichen wird, der mit einer Covid-19-Erkrankung verbundenen Spätfolgen. Unsere Plattform für Testung und Surveillance ist schon heute als Partner für Teststrategien beispielsweise in Schulen oder den Aufbau von Strukturen für systematische Virussequenzierung gefragt. Unter anderem gibt es dazu gut etablierte Kooperationen mit der Konferenz der Kultusminister und dem Robert Koch-Institut. Und im Bereich Immunologie und Impfung ist das Netzwerk von Expertinnen und Experten unter dem Dach des NUM enorm aktiv. Hier laufen aktuell unter anderem Impfstudien und die Entwicklung eines Antikörpers, beides sehr vielversprechende Themen. Das sind nur einige Beispiele, es gibt noch etliche weitere.
Es gilt aber auch: Gute Wissenschaft braucht Zeit, und ein Jahr ist sehr wenig Zeit, wenn man es mit einer völlig neuen Krankheit zu tun hat. Man darf hier nicht Durchbrüche im Wochentakt erwarten. Unter dem Strich haben wir im NUM Stand heute Aktivitäten aufgebaut haben, die unter normalen Umständen in Deutschland jahrelange Vorarbeit bräuchten. Das ist ein Riesenerfolg. Dennoch sind wir zu Covid-19 bei vielen Fragen immer noch ganz am Anfang. Es liegen noch viele Jahre Forschung vor uns, bevor wir diese Krankheit vollkommen verstanden haben werden.
Die Universitätsmedizin ist eine einzigartige Schnittstelle zwischen Forschung und Versorgungspraxis –inwiefern spielt diese Vermittlerfunktion in der Pandemie eine besondere Rolle?
Diese Schnittstelle ist in der Pandemie an zwei Stellen essenziell. In der Klinik sieht man Patientinnen und Patienten mit einem neuen Krankheitsbild zuerst. Deshalb kommen viele relevante Forschungsfragen zunächst aus der Klinik und strukturieren damit zu großen Teilen das Forschungsprogramm. Und umgekehrt muss in einer Pandemiesituation jede neue Erkenntnis möglichst sofort in eine Anpassung der Behandlung übersetzt werden, da in kurzer Zeit eine große Zahl von Erkrankten versorgt werden muss. Jede Verbesserung steigert die Qualität und entlastet gleichzeitig die Krankenhäuser, beispielsweise durch kürzere Verweildauern. Hier die richtigen Maßnahmen umzusetzen ist besonders herausfordernd, da unglaublich viel publiziert wird und nicht immer gleich klar ist, was echter Erkenntnisfortschritt ist und in der Versorgungspraxis wirklich hilft. Es ist daher kein Wunder, dass in dieser Pandemie die Universitätsmedizin fast flächendeckend eine führende Rolle im regionalen Versorgungsgeschehen übernommen hat. Denn an keinem anderen Ort sind Forschung und Versorgung so eng verzahnt. Und viele Unikliniken haben dazu noch viel Erfahrung im Umgang mit hochinfektiösen Erregern, der Modellierung von Pandemieverläufen oder Schutzkonzepten. Dieses Wissen wird im regionalen Pandemiemanagement dringend gebraucht.
Die jetzt aufgebauten Strukturen sollen über die aktuelle Krise hinaus Bestand haben – was erhoffen Sie sich von einer Verstetigung?
Wir müssen unbedingt das Wissen erhalten, das wir gerade im Umgang mit der Pandemie erwerben, damit wir bei der nächsten Pandemie – und die wird ganz sicher kommen – nicht wieder von vorne anfangen müssen. Manches, was nicht gut gelaufen ist, gilt es aufzuarbeiten, damit wir es beim nächsten Mal besser machen. Am Ende der Pandemie müssen wir die „lessons learned“ herausarbeiten und dabei die Lücken und Limitationen unserer bisherigen Infrastruktur objektivieren. Dann können wir mit dem NUM in den nächsten Jahren gezielt daran arbeiten, diese Lücken zu schließen. Das Stichwort hier lautet „pandemic preparedness“, also vorbereitet sein auf die nächste Pandemie. Das NUM muss eine Art „Gedächtnis“ für den bestmöglichen Umgang mit einer Pandemie werden.
Darüber hinaus sollten wir aber die nun entstandenen Infrastrukturen auch für andere Zwecke nutzen. Denn die Möglichkeiten, die uns das Netzwerk zum Beispiel im Bereich der Datenerhebung eröffnet, reichen weit über Pandemiemanagement oder -forschung hinaus. Ein Beispiel dafür wäre die Erforschung seltener Erkrankungen, bei der eine national koordinierte Herangehensweise sehr viel Sinn machen würde. Das NUM hat also sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.