Von der Entdeckung im Labor bis zum neuen Medikament vergehen oft viele Jahre. Und nicht alle Forschungsergebnisse münden auch in neue Wirkstoffe. Warum das so ist, erklärt Professor Ulrich Dirnagl von der Berliner Charité.
Sehr geehrter Herr Professor Dirnagl, wie sieht üblicherweise der Weg aus, den ein Forschungsergebnis von der Erkenntnis im Labor bis in die Patientenversorgung zurücklegt?
Ulrich Dirnagl: Am Anfang steht meistens die Entdeckung – und die ist oft aus purer Neugier geboren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erkennen beispielsweise, dass ein bestimmtes Molekül in einer Nervenzelle oder einem Rezeptor für die Behandlung einer Erkrankung relevant ist. Wir sprechen dann von einem Target, also einem Zielmolekül. Im nächsten Schritt wird in Zellkulturen oder Tiermodellen überprüft, inwiefern es das Krankheitsgeschehen positiv beeinflussen kann, wenn dieses Target besonders aktiviert oder aber blockiert wird. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Manchen Epilepsieformen liegt eine genetische Überempfindlichkeit bestimmter Rezeptoren auf Nervenzellen zugrunde. Findet nun eine Epilepsieforscherin ein Molekül, das den Rezeptor − also das Target − blocken und in einem Epilepsiemodell Anfälle vermindern kann, ist das wahrscheinlich der Punkt, an dem sie ihre Ergebnisse möglichst rasch publizieren wollen. Denn Veröffentlichungen in hochrangigen Fachzeitschriften sind Pluspunkte für die wissenschaftliche Karriere. Eine frühe Veröffentlichung kann allerdings das Aus für eine mögliche weitere Therapieentwicklung bedeuten.
Professor Dr. Ulrich Dirnagl erforscht in der experimentellen Neurologie unter anderem die Ursachen und Mechanismen von Schlaganfällen. Darüber hinaus engagiert er sich besonders bei Fragen zur Translation und Qualität von Forschungsergebnissen. Dirnagl ist Gründungsdirektor des seit 2017 bestehenden QUEST Centers am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG). Das QUEST Center will die Werthaltigkeit und den Nutzen biomedizinischer Forschung durch maximale Qualität, Reproduzierbarkeit, Verallgemeinerbarkeit und Validität der Forschung steigern. Zudem hat Dirnagl im Forum Gesundheitsforschung als Mitglied der Arbeitsgruppe „Wertschöpfungskette“ das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in seiner Förderstrategie beraten. Er ist Mitautor des Strategiepapiers zur Überwindung von Hürden der Wertschöpfungskette in der Gesundheitsforschung. Das Dokument liegt hier zum Download bereit: gesundheitsforschung-bmbf.de/files/White_Paper_AG_Wertschoepfungskette_final.pdf
Warum spricht denn eine frühe Publikation gegen eine weitere Entwicklung eines möglichen Therapeutikums?
Das hat mit dem geistigen Eigentum zu tun. Denn sobald die Untersuchungsergebnisse veröffentlicht sind – ohne zuvor ein Patent angemeldet zu haben –, ist es für die Industrie nicht mehr interessant, auf den bereits veröffentlichten Erkenntnissen aufbauend ein neues Therapeutikum zu entwickeln. Denn einmal veröffentlicht, sind diese Daten nicht nur allen zugänglich, sondern können auch von allen verwendet werden – es gibt kein besonderes Verwendungsrecht für eine bestimmte Person. Durch ein Patent, mit dem ein geistiges Eigentum an einem besonderen Verfahren oder Mechanismus angezeigt wird, gewinnen Unternehmen Zeit und können sicherstellen, dass nicht andere, konkurrierende Firmen am selben Projekt arbeiten. Das ist deshalb wichtig, weil möglicherweise viel Geld in die weitere Entwicklung fließt, das verloren wäre, wenn ein Zweiter schneller zum Ziel gelangt.
Veröffentlichung und Patentanmeldung werden oft als Spannungsfeld in der Wissenschaft empfunden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen ihre Erkenntnisse möglichst rasch veröffentlichen, um belegen zu können, dass sie die Ersten sind, die einen besonderen Mechanismus oder Zusammenhang entdeckt haben. Hinzu kommt, dass sie unter hohem Publikationsdruck stehen: Um ihre wissenschaftliche Laufbahn weiterverfolgen zu können, benötigen sie Veröffentlichungen in hoch angesehenen wissenschaftlichen Journalen, die wiederum hohen Wert auf die Neuigkeit und den Erkenntniswert legen. Oft denken Forschende, dass sie nach einer Patentanmeldung nicht mehr veröffentlichen können. Dabei können ihre Daten publiziert werden, sobald ein Patent angemeldet wurde. Die Ausarbeitung einer Patentanmeldung mit einem Patentanwalt dauert häufig weniger als einen Monat. Wurden die Ergebnisse in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekt erarbeitet, kann in der Regel auch die Patentanmeldung mit Fördergeldern bezahlt werden.
Wie könnte es denn im Optimalfall laufen?
Angenommen, die Forschenden hätten zunächst ein Patent beantragt und ihre Erkenntnisse erst anschließend veröffentlicht, dann würde im nächsten Schritt der Befund überprüft – am besten in sogenannten konfirmatorischen Studien, die zunächst darauf zielen, das Ergebnis zu wiederholen. Wichtig dabei ist beispielsweise, dass die Experimente in einem anderen Labor durch ein anderes Forschungsteam durchgeführt werden. Nur so kann festgestellt werden, ob das Ergebnis unabhängig und valide ist und der beobachtete Effekt wirklich eintritt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat früh erkannt, dass solche konfirmatorischen Studien ein wichtiges Fundament für die spätere klinische Entwicklung und den weiteren Ergebnistransfer darstellen.
Sie beziehen sich auf die BMBF-Richtlinie zur Förderung von konfirmatorischen präklinischen Studien, die Ende 2018 veröffentlicht wurde.
Ja, das ist eine bedeutsame Fördermaßnahme des BMBF im präklinischen Bereich, also bevor große klinische Studien starten. Sie fördert rein konfirmatorische – also absichernde – Forschung. Bislang hatte diese in der Wissenschaft nicht den Stellenwert der explorativen Forschung, die augenscheinlich Neues entdeckt. Das zeigt, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Denn diese neuartigen Ergebnisse helfen dem Menschen nicht, wenn sie nicht reproduziert werden können.
Konfirmatorische präklinische Studien sichern Qualität in der Gesundheitsforschung
Um die präklinische Forschung und deren Ergebnistransfer zu stärken hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Förderrichtlinien zu konfirmatorischen präklinischen Studien veröffentlicht. Das Ziel: Wissenschaftsinitiierte konfirmatorische Studien sollen die Evidenz, Robustheit und Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen erhöhen. Thematisch adressieren die Projekte beispielsweise Erkrankungen von Herz-Kreislauf, Nervensystem, Lunge und Orthopädie. Ein Begleitprojekt unterstützt die Forschenden.
Mehr Informationen zu den geförderten Studien finden Sie unter Forschung fördern.
Sie haben bereits mehrere Übergänge im Transferprozess angesprochen. An welchem Punkt sind denn die Hürden am höchsten?
Die zweite große Hürde ist die der reproduzierbaren Ergebnisse. Hier setzt das BMBF mit seiner Förderrichtlinie zu konfirmatorischen präklinischen Studien an, indem es Forscherinnen und Forscher unterstützt, frühzeitig belastbare und damit transferierbare Ergebnisse zu erzeugen.
Ulrich Dirnagl
Ich sehe die größten Hürden an zwei Stellen: Zum einen sind die Forschenden sehr auf ihr originäres wissenschaftliches Umfeld konzentriert. Die Curricula der Hochschulmedizin sind nicht darauf ausgerichtet, Transferprozesse zu vermitteln. Das Bewusstsein und das Verständnis dafür, was zu einem späteren Zeitpunkt beim Forschungstransfer wichtig ist und Vorrang hat, sind aber schon zu Anfang eines Experimentes essenziell. Die zweite große Hürde ist die der reproduzierbaren Ergebnisse. Hier setzt das BMBF mit seiner Förderrichtlinie zu konfirmatorischen präklinischen Studien an, indem es Forscherinnen und Forscher unterstützt, frühzeitig belastbare und damit transferierbare Ergebnisse zu erzeugen.
Sie sind Gründungsdirektor des QUEST CENTER FOR TRANSFORMING BIOMEDICAL RESEARCH am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG). QUEST steht hierbei für Quality, Ethics, Open Science und Translation. Wie kann dieses Zentrum konkret helfen, die Hürden zu überwinden?
Das QUEST unterstützt die Universitätsmedizin an der Charité, eine der zwei Gründungsinstitutionen des BIG, ihre akademische Forschung mit höchster Qualität durchzuführen. Beispielsweise gehen wir auf Forschende zu und helfen ihnen, ihre Studienergebnisse zu veröffentlichen. Wir sehen nämlich, dass 30 bis 40 Prozent der klinischen Studienergebnisse an der Charité nicht veröffentlicht wurden. Das trifft auch für viele andere Universitäten zu. Größtenteils sind das Studien mit sogenannten Negativ-Ergebnissen, die etwa aufzeigen, dass eine neue Behandlung oder ein Medikament nicht wirksam sind. Im Grunde sind diese Ergebnisse an sich aber nicht negativ, denn die Information darüber ist sehr wichtig und beeinflusst beispielsweise die Planung weiterer Studien. Wir im QUEST unterstützen deshalb die akademischen Studienleitungen dabei, zeitgerecht zu publizieren – auch negative Ergebnisse. Wir belohnen zum Beispiel Forschende, die ihre negativen Ergebnisse publizieren und dadurch für alle öffentlich zugänglich machen, indem wir ihnen für diese Publikationen 1.000 Euro auf ein Forschungskonto überweisen. Dieses Geld können sie dann zum Beispiel für Forschungsaufenthalte oder Sachmittel verwenden.
Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG)
Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) ist eine Wissenschaftseinrichtung für Translation und Präzisionsmedizin mit dem Ziel, Gesundheitsforschung und medizinische Versorgung enger miteinander zu verzahnen. Es ist ein deutschlandweit einmaliger Zusammenschluss zwischen dem Bund und dem Land Berlin. Gefördert wird das BIG vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Land Berlin und der Stiftung Charité. Die Charité – Universitätsmedizin Berlin und das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) sind Gründungsinstitutionen und im BIG eigenständige Gliedkörperschaften.
Außerdem begleitet QUEST den Prozess von „transferfreundlichen Förder- oder Bewerbungskriterien“. Denn wir möchten, dass die Aspekte des Transfers einen festen Platz in wissenschaftlichen Kriterienkatalogen erhalten. Wir stellen mit Freude fest, dass immer mehr Institute und Förderorganisationen Nachweise verlangen, ob schon einmal negative Daten veröffentlicht oder konfirmatorische Studien durchgeführt wurden. Das erhöht ihren Stellenwert und rückt sie in das Bewusstsein der Forschenden.
Inwieweit profitieren die forschenden Nachwuchskräfte vom QUEST?
Immer mehr Institute und Förderorganisationen verlangen Nachweise, ob schon einmal negative Daten veröffentlicht oder konfirmatorische Studien durchgeführt wurden. Das erhöht ihren Stellenwert und rückt sie in das Bewusstsein der Forschenden.
Ulrich Dirnagl
Wir bieten besondere Trainingsmodule für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. In diesen Kursen informieren wir beispielsweise darüber, was sie bereits zu Beginn ihrer Experimente berücksichtigen müssen. Wir begleiten die Forschenden aber auch während ihres Projekts und unterstützen sie bei der weiteren Entwicklungsplanung. Ein ganz konkretes Beispiel: Wenn sie einen Wirkstoffkandidaten testen wollen, müssen sie bedenken, dass dafür ganz bestimmte Experimente nötig sind. Es gibt ein ganz bestimmtes Tiermodell, mit dem unerwünschte Nebenwirkungen der fraglichen Substanz auf das Herz getestet werden. So etwas muss frühzeitig berücksichtigt werden und es müssen entsprechende Kapazitäten bereitgestellt werden.
Wir beraten und unterstützen aber nicht nur die Charité und ihre Forschenden, sondern auch Fördergeber und Wissenschaftsjournale. Das BMBF verlangt schon seit Beginn seiner langjährigen Förderung klinischer Studien, dass diese mit möglichst hohem Evidenzgrad durchgeführt werden, die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer also zufällig einer Kontroll- und einer Behandlungsgruppe zugeteilt werden, wobei weder die Teilnehmenden noch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wissen, wer zu welcher Gruppe gehört. Wir sprechen dann von randomisiert doppelblinden Studien. Das muss Standard werden, denn es ist unumstritten, dass die zufällige Aufteilung in Behandlungs- und Kontrollgruppe ein Garant für valide Ergebnisse ist – und natürlich eine wesentliche Voraussetzung für die Förderung oder die Veröffentlichung. Wichtig dabei ist aber auch, konkrete Angaben zur Umsetzung einzufordern.
Das Projekt GOT-IT:
Das Projekt Targetvalidierungs-Richtlinien zur Förderung der Entdeckung innovativer Arzneimittel, kurz GOT-IT, hat industrielle Praktiken der Targetvalidierung analysiert, um daraus Richtlinien für die effiziente Targetvalidierung abzuleiten. Das Vorhaben adressiert dabei die Problematik der mangelnden Übertragung von Forschungsergebnissen zu Targets aus der Grundlagenforschung in die weiterführende Medikamentenentwicklung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat das Begleitvorhaben im Rahmen der Fördermaßnahme „Targetvalidierung für die pharmazeutische Wirkstoffentwicklung“ mit rund 900.000 Euro gefördert. Die elf geförderten Forschungs- und Entwicklungs-Projekte konnten schon während ihrer Laufzeit unmittelbar von den gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen profitieren. Publikationen, Ausbildungsprogramme und eine Online-Expertenplattform sollen zukünftig die nachhaltige Verbreitung der entwickelten Leitfäden ermöglichen.
Mehr Informationen finden Sie auf den projekteigenen Internetseiten: https://got-it.app
Wie können sich denn Forscherinnen und Forscher außerhalb der Charité informieren?
Ganz aktuell haben wir in einem Forschungsverbund, der ebenfalls durch das BMBF gefördert wurde, eine Handreichung entwickelt, den „Critical Path Generator“. Dieser „Werkzeugkasten“ ebnet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Weg für den weiteren Transfer ihrer Ergebnisse. Denn mit seiner Hilfe können sie einen Forschungsplan erstellen, in dem wichtige Untersuchungsblöcke von Beginn an berücksichtigt werden. Anhand eines Fragebogens können sie zudem die Stärken und Schwächen sowie kritische Ressourcen ihres Projekts identifizieren. Wichtig: Das kommt nicht nur den Forschenden zugute, sondern allen Menschen, die von den Forschungsergebnissen profitieren. Er ist für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf den Internetseiten des Projekts öffentlich zugänglich: https://got-it.app.
Vielen Dank für das Gespräch!