Interview mit Professor Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Abteilung des St. Josef-Hospitals, Klinik der Ruhr-Universität Bochum
Herr Professor Gold, was sind die Symptome einer beginnenden Multiplen Sklerose?
Viele MS-Patienten gehen zu einem Neurologen, wenn sie auf einem oder beiden Augen plötzlich verschwommen sehen oder ihre Arme und Beine sich wie eingeschlafen anfühlen. Beides gehört zu den typischen Frühsymptomen einer Multiplen Sklerose. Wenn Gehstörungen auftreten, suchen die Patienten zum Beispiel eher einen Orthopäden auf. In seltenen Fällen können schon früh auch andere Symptome wie Störungen der Blasen- und Darmfunktion auftreten. Das Tückische und Trügerische an der Multiplen Sklerose ist, dass jeder Teil des Nervensystems davon befallen sein kann.
Was empfehlen Sie Menschen, die mit diesen Symptomen zu Ihnen kommen?
Die MS beginnt meistens zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr, deshalb sollte bei entsprechenden Beschwerden eine vollständige Abklärung erfolgen. Diese beinhaltet neurologische Untersuchungen wie Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit, eine Nervenwasseruntersuchung bis hin zur Kernspintomografie. Diese Befunde ermöglichen die Diagnose einer MS und den Ausschluss anderer Erkrankungen, die auch psychischer Natur sein können.
Wie viele Menschen sind von der Multiplen Sklerose betroffen und warum ist sie weltweit so unterschiedlich verteilt?
In Deutschland sind schätzungsweise 120.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. In skandinavischen Ländern weist die allgemeine Tendenz im Moment nach oben. Wir nehmen an, dass dies ebenso für Deutschland gilt, auch wenn gerade erst ein Register erstellt wird, das diese Daten erfasst. Die unterschiedliche Verteilung der MS hat verschiedene Gründe: In Europa scheint die Häufung der Erkrankung durch eine Prägung des Immunsystems bedingt zu sein, zum Beispiel durch Virusinfekte in der Jugend. In Japan hat es einen deutlichen Anstieg der MS gegeben, der auch durch Umstellungen der Ernährung - von Fisch und gesunder Nahrung zu Fastfood und westlicher Nahrung - bedingt sein kann. Zwillingsstudien wiederum haben ergeben, dass wahrscheinlich nur etwa ein Drittel genetisch bedingt ist.
Warum verläuft die MS bei vielen Menschen so unterschiedlich?
Es gibt ganz unterschiedliche Verläufe in ein und derselben Familie, ohne dass wir es gut erklären können. Wir wissen hingegen, dass der zunächst schubförmige Verlauf der Erkrankung unbehandelt nach zehn bis 15 Jahren bei der Hälfte der Patienten in einen langsam fortschreitenden Verlauf übergeht. Wir gehen davon aus, dass dann die Fähigkeiten des Nervensystems, die entstandenen Schäden auszugleichen, erschöpft sind.
Lässt sich der Verlauf einer MS vorhersagen?
Der Krankheitsverlauf ist leider nicht genau vorhersagbar. Bei Patienten, die an einer schubförmig verlaufenden MS erkrankt sind und sich nach zwei Jahren Therapie stabilisiert haben, trauen wir uns mittlerweile, eine Prognose abzugeben. Es gibt aber auch zu Beginn der Erkrankung Zeichen, die für einen günstigeren Verlauf sprechen; zum Beispiel, wenn die MS mit Sehstörungen oder Taubheitsgefühlen beginnt. Zeigen sich dagegen beim ersten Schub bereits viele Herde in der Kernspinuntersuchung, spricht dies für eine eher ungünstige Entwicklung. Mit den derzeitigen Therapiemöglichkeiten ist aber auch dieser Verlauf durchaus positiv zu beeinflussen.
Stimmt es, dass eine frühzeitige immunmodulierende Therapie den Verlauf der MS günstig beeinflusst?
Nach dem, was wir wissen, trifft das für den schubförmigen Verlauf zu - wahrscheinlich weil die Entzündungsaktivität in den ersten Jahren am stärksten ist. Je früher wir mit der Immuntherapie anfangen, umso mehr wird der Entzündungsprozess gebremst. Die chronische Entzündung klingt über die Jahre ab, verbleibt aber auf niedrigem Niveau. So geht die Erkrankung in einen langsamen, aber kontinuierlich fortschreitenden Verlauf über.
Welche neuen Therapieverfahren werden derzeit geprüft?
Zurzeit werden verschiedene Erfolg versprechende Medikamente zur Behandlung der MS klinisch geprüft. Eines, Natalizumab, ist sogar bereits zur Basistherapie und bei schwereren schubförmigen Verläufen zugelassen. Unter den Neuentwicklungen sind Substanzen, die sich gegen bestimmte Oberflächenmerkmale von Immunzellen richten und so deren Funktion beeinflussen oder Einfluss auf wichtige Botenstoffe nehmen. Ziel der neuen Medikamente ist, die bei der MS fehlgeleitete Immunreaktion zu stabilisieren und den pathologischen Entzündungsprozess einzudämmen.
Glauben Sie, dass man die Multiple Sklerose eines Tages heilen kann?
Im Moment glaube ich nicht daran. Wird die schubförmige MS früh konsequent therapiert, besteht bei sehr vielen Patienten eine gute Chance, die Krankheit - unter fortgesetzter Therapie - zum Stillstand zu bringen. Viele Patienten, die derzeit mit Interferonen behandelt werden, sind bereits seit zehn Jahren stabil. Für Patienten mit schubförmig verlaufender MS wird es also weiter vorangehen. Für Menschen mit primär oder sekundär chronisch fortschreitender MS ist die Entwicklung schwer vorherzusagen.