Gene: Die wahren Dickmacher?

Die genetischen Ursachen für Übergewicht werden geklärt

Wer wird dick und wer bleibt dünn? Marburger Forscher gehen dieser Frage nach, indem sie das Erbgut untersuchen. Sie haben Genmutationen gefunden, die dazu führen, dass sich das Körpergewicht drastisch erhöht. Sich dagegen zu wehren, ist schwer.
"Ich esse ganz wenig. Übergewicht liegt bei uns einfach in der Familie." – Ausrede? Oder ist was dran an der Geschichte von den Genen, die dick machen? "Zu etwa 60 Prozent sind die Erbanlagen dafür verantwortlich, dass jemand Übergewicht entwickelt", antwortet Professor Johannes Hebebrand von der Universität Marburg. Mehrere Gene, die das Gewicht beeinflussen, sind bereits bekannt. Einige verursachen Übergewicht, andere halten dünn. "Vor allem bei Menschen, die schon im Kindesalter starke Gewichtsprobleme haben, können oft genetische Faktoren die entscheidende Rolle spielen", so Hebebrand. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erforschen er und seine Mitarbeiter bekannte Faktoren und sind auf der Suche nach neuen. Aktuell interessieren sich die Wissenschaftler besonders für einige Mutationen des MC4R-Gens. Etwa zwei Prozent der Menschen mit extremem Übergewicht zeigen solche Mutationen. Das MC4R-Gen liefert den Bauplan für den Melanocortin-4 Rezeptor (MC4R). Dieser Rezeptor kommt vor allem im Hypothalamus vor, einer Struktur des Gehirns. Er beeinflusst den Energiehaushalt des Organismus und reguliert das Körpergewicht. Die Forscher wissen ziemlich genau, wie viele zusätzliche Kilogramm auf das Konto der Veränderungen des MC4R-Gens gehen: Ein 1,80 Meter großer Mann mit Mutation wiegt durchschnittlich 13 kg mehr als andere Männer; eine 1,70 Meter große Frau sogar 27 kg mehr als andere Frauen. Die betroffenen Menschen neigen zu Übergewicht, weil sie mehr Hunger haben und möglicherweise gleichzeitig weniger Kalorien verbrennen als andere. Molekularbiologisch lässt sich das folgendermaßen erklären: Wird der MC4-Rezeptor aktiviert, so sinkt der Appetit; gleichzeitig steigen Aktivität undEnergieverbrauch. Durch die Mutationen des MC4R-Gens bildet der Körper zu wenige, falsch zusammengesetzte oder gar keine Rezeptoren. Die Rezeptoren können dadurch nicht oder nicht vollständig aktiviert werden. Die Folge: Der Appetit steigt, und man verbraucht weniger Energie. Aber es gibt nicht nur MC4R-Genvarianten, die dick machen: Die Wissenschaftler haben jetzt im gleichen Gen die Bedeutung der Mutation I103 geklärt. Sie hilft, dünn zu bleiben. Personen mit dieser Mutation wiegen bei einer Größe von 1,80 Meter durchschnittlich 1,6 kg weniger als ihre Mitmenschen. Ihr Risiko, übergewichtig zu werden, ist um 30 bis 40 Prozent reduziert. Hebebrand geht davon aus, dass I103 im Gegensatz zu den übrigen MC4R-Genmutationen die Aktivität der Rezeptoren erhöht.

Abnehmen nur mit eiserner Disziplin
Die Bedeutung des MC4R-Gens und einiger anderer Gene für die Gewichtsregulation ist weitgehend entschlüsselt. Hebebrand betont aber, dass neben Umweltfaktoren noch eine ganze Reihe weiterer Erbanlagen eine Rolle spielen müssen. Hebebrand ist überzeugt: "Das Gewicht ist bei Menschen nicht genormt. Wie bei der Körpergröße gibt es eine erhebliche Streubreite. Dafür sind zu einem großen Teil unsere Gene verantwortlich." Er bedauert, dass diese Zusammenhänge in der öffentlichen Diskussion vernachlässigt werden und auch manchen Therapeuten, die Übergewichtige betreuen, unbekannt sind. Zu selten wird zur Kenntnis genommen, dass stark Übergewichtige es wegen ihrer genetischen Veranlagung zum Teil kaum schaffen können, langfristig wesentlich dünner zu werden. Soll das Abnehmen trotz der Erbanlagen dauerhaft gelingen, ist vor allem eiserne Disziplin gefragt – in Bezug auf Ernährung und körperliche Aktivität. Wem das nicht klar gesagt wird, ist schnell entmutigt. Eine Folge sind frustrierende Hungerkuren, die oft das Gewicht sogar noch steigern. Hebebrand: "Wir sollten keine Hoffnungen wecken, die sich nicht erfüllen lassen. Wichtiger ist, dass auch stark Übergewichtige lernen, sich selbst zu akzeptieren."

Übergewicht als Evolutionsvorteil
Die längste Zeit in der Geschichte waren Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Veranlagung rasch zunehmen konnten, eigentlich im Vorteil. Denn wer in guten Zeiten ausreichende Fettreserven bildete, überstand auch Hungerperioden. In den Industrienationen kehrt sich dieser Vorteil um: Die modernen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten begünstigen Übergewicht, und gleichzeitig kommen Hungerperioden nicht mehr vor. Daher nehmen Menschen mit der entsprechenden erblichen Veranlagung oft extrem zu. Übergewicht ist ein entscheidender Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Leiden, Zuckerkrankheit und andere Zivilisationskrankheiten.

Ansprechpartner:
Professor Dr. Johannes Hebebrand
Klinische Forschergruppe
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Philipps-Universität Marburg
Hans-Sachs-Straße 4–8
35033 Marburg
Tel.: 06421/2 86 64 66
Fax: 06421/2 86 30 56
E-Mail: hebebran@post.med.uni-marburg.de