Menschen mit der Binge-Eating-Störung leiden unter Essanfällen. Lebensmittel nehmen sie mit besonderer Aufmerksamkeit wahr. Ein neuropsychologisches Training könnte ihnen helfen, die Selbstkontrolle zu stärken und Essanfälle zu reduzieren.
Eigentlich könnte die 16-jährige Clara (Name von der Redaktion geändert) mit ihrer Figur zufrieden sein. Doch ihre Oberschenkel und ihren Bauch findet sie zu dick. Deshalb lässt sie das Frühstück ausfallen und versucht, in der Schule weniger zu essen. Wenn sie danach allein zu Hause ist, kocht sie oft Nudeln. „Noch bevor die fertig sind, mache ich mir zwei Toasts mit Käse und esse, was ich gerade finde – eine Banane, Würstchen, Kekse.“ Dabei isst Clara viel schneller als sonst. „Meist koche ich mir noch eine zweite Nudelportion, obwohl ich schon keinen Hunger mehr habe. Denn ich kann einfach nicht aufhören mit dem Essen. Erst das schlimme Völlegefühl bremst mich.“ Auf den Essanfall folgen Schuldgefühle und Ängste. „Immer wieder quält mich die Frage, warum ich mich so gehen lasse. Ich schäme mich. Das Gefühl, wie fremdgesteuert zu handeln, macht mir große Angst.“
Etwa zweimal pro Woche erleidet Clara einen Essanfall. Psychologinnen und Psychologen nennen ihre Krankheit die Binge-Eating-Störung (engl. Binge-Eating Disorder), kurz BED. „Binge“ ist das englische Wort für ein Gelage, bei dem übermäßig viel gegessen wird. Die Betroffenen versuchen nicht, systematisch eine Gewichtszunahme zu verhindern, z. B. durch selbst herbeigeführtes Erbrechen oder Fasten. Dies unterscheidet die BED von der Ess-Brech-Sucht, der Bulimia Nervosa. Die BED tritt häufig im jungen Erwachsenenalter erstmalig auf, betrifft aber auch Kinder und Jugendliche. In den USA leiden 1,6 Prozent der Jugendlichen und 3 Prozent der Erwachsenen an BED. Die Krankheit gilt als die häufigste Essstörung.
Forschungsbedarf: Behandlung und Mechanismen der BED
Bei der Hälfte der erwachsenen Patientinnen und Patienten kann Psychotherapie wie die kognitive Verhaltenstherapie eine komplette Remission der Erkrankung bewirken, also ein Verschwinden der Symptome. Bislang gibt es jedoch kaum Studien, die den Krankheitsverlauf und die Wirkung der Therapien bei Kindern und Jugendlichen mit BED untersuchen. Doch gerade hier besteht Forschungsbedarf. Denn wird die Krankheit chronisch, steigt schon im Jugendalter das Risiko, an Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken. Auch die Seele leidet. Das durch die Essanfälle hervorgerufene Gefühl der Machtlosigkeit lässt viele Betroffene resignieren und kann ihnen jeglichen Antrieb rauben. Menschen wie Clara leiden häufig auch an Depressionen und Angststörungen.
Erst seit 2013 klassifiziert das Diagnostische Handbuch für psychische Störungen BED als eigenständige Diagnose. Zuvor wurde die Krankheit einer Restkategorie zugeordnet, den sogenannten „nicht näher definierten Essstörungen“. Die der BED zugrunde liegenden Mechanismen sind weitgehend unbekannt. Forschende an dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten IFB AdipositasErkrankungen in Leipzig wollen diese Mechanismen entschlüsseln.
Dazu erforschten Professorin Anja Hilbert und ihr Team erstmals, mit welcher Aufmerksamkeit Jugendliche und junge Erwachsene mit BED visuelle Lebensmittelreize wahrnehmen und ob sie sich dabei von gesunden Personen unterscheiden. Jedem Erkrankten wurde ein gesunder Jugendlicher mit gleichem Alter, Geschlecht, Gewicht und sozioökonomischen Status zugeordnet. Die Probandinnen und Probanden im Alter von 12 bis 20 Jahren erschienen gesättigt zu den Versuchen.
Aufmerksamkeitsveränderungen auf der Spur
Im ersten Experiment blickten die Teilnehmenden entspannt auf einen Bildschirm. Dort sahen sie Bildpaare: Ein Bild zeigte stets ein Nahrungsmittel, das zweite ein Naturbild oder einen Alltagsgegenstand – in jedem Fall ein Objekt, das dem Nahrungsmittel in Form und Farbe ähnelt. Beispiele für solche Bildpaare sind ein Brokkoliröschen und ein Laubbaum oder ein Spiegelei und eine Margeritenblüte. Für drei Sekunden blieb ein Bildpaar sichtbar, dann erschien ein neues.
Während die Jugendlichen den Monitor betrachteten, zeichneten Hilbert und ihr Team jeden Blick mit der Eyetracking-Methode auf. „Das Besondere an dieser Technik ist, dass wir schnellste Blickbewegungen präzise analysieren können. Wir sehen genau, welche Punkte des Bildschirms wie lange fixiert werden. Diese Werte dienen uns als Maß für die Aufmerksamkeit der Personen“, erläutert Hilbert. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche mit BED den Nahrungsreizen viel mehr Aufmerksamkeit widmeten als der jeweiligen „ungenießbaren“ Bildalternative. Jugendliche ohne BED zeigten dagegen keine Vorliebe für Nahrungsreize. Fazit: Erkrankte Jugendliche können ihre Aufmerksamkeit offensichtlich schlecht von Lebensmitteln lösen.“
Das zweite Experiment stellte die Probandinnen und Probanden vor eine visuelle Suchaufgabe: Sie sahen auf einem Bildschirm jeweils mehrere gleich große Bilder. Dabei handelte es sich
(1) ausschließlich um dieselben Bilder eines Lebensmittels,
(2) ausschließlich um ein nicht essbares Objekt,
(3) um ein Lebensmittel, das sich unter mehreren Bildern eines in Farbe und Form ähnlichen Objektes versteckte,
(4) oder um ein nicht essbares Objekt, das sich unter ähnlich aussehenden Lebensmitteln verbarg.
Per Tastendruck signalisierten die Teilnehmenden so schnell wie möglich, ob alle Bilder identisch waren oder ob sich eines der Objekte von den anderen unterschied. Die Auswertung der Reaktionszeiten ergab: Jugendliche mit BED entdeckten ein Lebensmittel unter vielen anderen Objekten (Fall 3) deutlich schneller als ein nicht essbares Objekt unter vielen Lebensmitteln (Fall 4). Jugendliche aus der Kontrollgruppe zeigten diesen Effekt nicht. Im Gegenteil, sie entdeckten das versteckte Objekt schneller, wenn es ein Nichtlebensmittel war.
Neuropsychologisches Training gegen Essanfälle
Auch gesunde Menschen entwickeln, wenn sie hungrig sind, eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Nahrungsreizen – jedoch nicht, wenn sie satt sind. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die veränderte Aufmerksamkeit bei gesättigten Personen auf ein gestörtes Essverhalten hinweisen kann“, erklärt Ricarda Schmidt, Diplom-Psychologin im wissenschaftlichen Team von Hilbert. „Wir glauben, dass dieser Aufmerksamkeitsunterschied wichtige kognitive Funktionen zur Verhaltenskontrolle beeinträchtigt. Das fördert ein enthemmtes Verhalten, wie es sich in den Essanfällen äußert“, so Schmidt.
Derzeit untersuchen die Forschenden am IFB Leipzig neue Behandlungsmethoden, die an den neuropsychologischen Veränderungen ansetzen. Zahlreichen Studien zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) belegen, dass ein sogenanntes Neurofeedback-Training impulsive Reaktionen verringern kann. Hilbert und ihr Team wollen nun herausfinden, ob ein solches Training auch bei BED die Selbstkontrolle stärken und Essanfälle verhindern kann. Bei dieser Methode sehen die Teilnehmenden ihre eigenen Hirnaktivitäten live auf einem Computermonitor. Gleichzeitig sehen sie Bilder von Nahrungsmitteln, die bestimmte Hirnaktivitäten verändern und Essanfälle auslösen können. Die Probandinnen und Probanden sollen dabei lernen, ihre Hirnaktivität gezielt zu beeinflussen, um Essanfälle zu verhindern. Wenn dies gelingt, könnten künftig Menschen wie Clara besser vor einem chronischen Verlauf und den langfristigen Folgen der Essstörung geschützt werden.
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Anja Hilbert
Universitätsmedizin Leipzig
IFB AdipositasErkrankungen
Philipp-Rosenthal-Straße 27
04103 Leipzig
0341 97-15361
anja.hilbert@medizin.uni-leipzig.deundefined
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