Eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie hat die Situation von Menschen beleuchtet, die auf künstliche Beatmung angewiesen sind und zu Hause versorgt werden. Denn über die alltäglichen Herausforderungen ist bislang wenig bekannt.
Immer mehr schwer kranke Menschen können im häuslichen Umfeld versorgt werden. Dank moderner Technik ist dies auch dann möglich, wenn beim Atmen dauerhaft technische Unterstützung notwendig ist. Für beatmete Patientinnen und Patienten kann es dabei von Vorteil sein, in gewohnter häuslicher Umgebung versorgt zu werden, allerdings birgt diese Form der Versorgung auch Risiken. „Problematisch ist dabei, dass wir noch wenig wissen über die Situation und die Erfahrungen von Patientinnen und Patienten, die zu Hause beatmet werden“, sagt Professor Dr. Michael Ewers, Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Auch fehlt es uns an geeigneten Konzepten für diese spezielle Form der technikintensiven häuslichen Intensivversorgung“, ergänzt er. Aus diesem Grund haben er und sein Team die Studie SHAPE initiiert. Das Kürzel steht für den englischen Titel der Studie „Safety in Homecare for ventilated Patients“. SHAPE will Einblicke in die häusliche Intensivversorgung aus Nutzersicht gewinnen und diese Erkenntnisse dazu nutzen, Empfehlungen für mehr Patientensicherheit in diesem speziellen Versorgungsbereich abzuleiten.
Patientenzentrierte Versorgung
Das Forscherteam hat dafür zunächst beatmete Patientinnen und Patienten und deren Angehörige direkt befragt. „Es ist das erste Mal, dass hierzulande in diesem Bereich die Sichtweisen und Erfahrungen der Betroffenen systematisch erhoben werden, um deren Versorgung patientenzentrierter zu gestalten“, sagt Ewers. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollten konkret wissen, was Sicherheit für die Betroffenen in ihrer Situation bedeutet und welche Erfahrungen sie mit dem Thema gesammelt haben. Insgesamt wurden dafür 21 beatmete Patienten und 15 Angehörige aus Nordost- und Süddeutschland befragt. Fragen zum Alltag und den Erfahrungen in der häuslichen Pflege und Versorgung standen dabei im Mittelpunkt. Aber auch, wann sich die Be-fragten sicher oder unsicher fühlten oder was ihnen wichtig ist, damit sie sich zu Hause sicher fühlen können. Das Alter, der persönliche Hintergrund, die Lebensumstände, die Erkrankungssituation sowie die Art und der Umfang der Behandlungs- und Pflegebedürftigkeit der interviewten Patientinnen und Patienten oder ihrer Angehörigen variierten dabei von Fall zu Fall. So sollten möglichst unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen berücksichtigt werden. Zusätzlich hatten Betroffene und Angehörige die Möglichkeit, ihre individuelle Sichtweise des Versorgungsalltags mit Fotos aus dem Alltag in der Studie zu dokumentieren.
Drei zentrale Sicherheitsdimensionen
Ewers fasst die Ergebnisse der qualitativen Auswertung so zusammen: „Die Befragten haben ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit. Dies bezieht sich aber nicht so sehr auf die Technik oder andere, aus medizinisch-pflegerischer Sicht wichtige Aspekte – etwa Hygienefragen. Vielmehr steht für sie die Beziehung zu den professionell Pflegenden im Vordergrund.“ Drei zentrale Sicherheitsdimensionen wurden herausgearbeitet, und zwar (1) vertraut sein und Vertrauen haben, (2) sich mitteilen können und wahrgenommen werden, (3) Anwesenheit spüren und Beständigkeit erfahren.
„Weil sie aufgrund der Beatmung in der Kommunikation eingeschränkt sind, greifen Patientinnen und Patienten oft auf nicht sprachliche Verständigungsformen zurück, um in kritischen Situationen auf sich aufmerksam zu machen – etwa ein schnelles Augenzwinkern oder kurzes Zucken mit den Mundwinkeln“, erklärt Ewers. „Das funktioniert natürlich nur, wenn das Gegenüber mit diesen Gesten vertraut ist und weiß, worum es geht.“ Vertrauen und personelle Kontinuität sind deshalb für die Befragten äußerst sicherheitsrelevant. Tatsächlich aber sehen sich Patientinnen und Patienten im Alltag mit häufig wechselnden Pflegenden konfrontiert, was sie entsprechend verunsichert.
Die Sicht der Angehörigen
Die Studie SHAPE zeigt: Vertrauen haben, wahrgenommen werden und Beständigkeit erfahren sind zentrale Aspekte, die den zu Hause gepflegten Personen wichtig sind. Ähnliche Dimensionen konnte das Wissenschaftlerteam auch aus den Antworten der Angehörigen herausfiltern. Denen geht es hauptsächlich darum, nicht an den Rand gedrängt, sondern informiert und in die Pflege einbezogen zu werden. Sie sehen sich zudem mit dem Anspruch konfrontiert, ständig verfügbar sein zu müssen. Hier erwarten sie grundsätzlich Unterstützung von den professionell Pflegenden. Sicherheit vermitteln ihnen dabei vor allem Pflegende, die auch in kritischen Situationen Ruhe und Kompetenz ausstrahlen – auch daran fehlt es aus Sicht der Befragten häufig. „In der Summe zeigt sich, dass Patienten oder Patientinnen und deren Angehörige kein technik- oder umweltorientiertes, sondern eher ein relationales Sicherheitsverständnis haben. Mit anderen Worten: Die Beziehung zu den Pflegenden ist entscheidend, um sich in der häuslichen Intensivversorgung sicher fühlen zu können“, so Ewers.
Ein Diskurs wird angestoßen
„Die Ergebnisse der ersten Phase von SHAPE machen deutlich, dass technische Aspekte nur einen Teil eines Sicherheitskonzepts für diese Form der Krankenversorgung darstellen können, auch personale Faktoren sind zu berücksichtigen“, sagt Ewers. Die zweite Studienphase, in der die Pflegenden und andere professionelle Helfer in Fokusgruppen mit den Sichtweisen der Betroffenen konfrontiert werden und sie diskutieren, läuft gerade. In einer dritten und abschließenden Phase werden dann im Diskurs mit Expertinnen und Experten fundierte Empfehlungen für eine sichere und patientenzentrierte häusliche Intensivversorgung formuliert. „Die Einbeziehung der Sichtweisen und Erfahrungen von Nutzerinnen und Nutzern in Prozesse der Konzept- und Leitlinienentwicklung wird in der Versorgungsforschung zunehmend als wichtig angesehen“, so Ewers. Vergleichbare Forschungserkenntnisse sind zum Beispiel in die Expertenstandards „Pflege von Menschen mit chronischen Wunden“ und „Ernährungsmanagement“ eingeflossen. Auch im Cochrane-Handbuch zur Entwicklung von Expertenstandards wird die Bedeutung qualitativer Forschungserkenntnisse betont. „Qualitative Studien wie SHAPE“, so das Fazit des Wissenschaftlers, „leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die Gesundheits- und Krankenversorgung patientenzentriert auszurichten.“ Diese Position wird nicht zuletzt auch vom Aktionsbündnis Patientensicherheit unterstützt, mit dem das Forschungsteam eng zusammenarbeitet.
Versorgungsforschung ist die Wissenschaft, die die Patientenversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt, erklärt und unter Alltagsbedingungen bewertet. Die Versorgungsforschung entwickelt neue Versorgungskonzepte und erprobt sie auch. Mit seinem „Aktionsplan Versorgungsforschung – Forschung für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen“ stärkt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Versorgungsforschung in Deutschland. Sie wird dabei auf mehreren Ebenen unterstützt: Die hier vorgestellte Studie wird im laufenden Förderschwerpunkt „Studien in der Versorgungsforschung“ gefördert. Mit ihm verfolgt das BMBF das Ziel, den Nutzen von Behandlungen nicht nur in klinischen Studien an ausgewählten Patientengruppen, sondern im Versorgungsalltag unter Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen zu belegen.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Michael Ewers
Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Charité – Universitätsmedizin Berlin
CVK: Campus Virchow-Klinikum
Charité Centrum Human- und
Gesundheitswissenschaften CC 1
030 450 529-092
030 450 529-900
michael.ewers@charite.de