24.06.2020

| Aktuelle Meldung

Hilft Vitamin B3 Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen?

Mit einer großangelegten Studie überprüfen Forschende aus Norddeutschland, inwiefern Vitamin B3 Entzündungsprozesse im Darm reduzieren kann. Sollte sich dies bestätigen, ließen sich chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zukünftig besser behandeln.

Grafische Darstellung des Oberkörpers eines Mannes mit durchsichtigen Organen

Colitis ulcerosa ist eine chronische Erkrankung des Dickdarms, die bislang nicht heilbar ist. Ein Forscherteam prüft nun eine neue Therapieoption mit geringen Nebenwirkungen.

appledesign/Adobe Stock

Vitamin B3 ist für den menschlichen Körper wichtig: In Coenzyme umgewandelt wirkt es bei vielen unterschiedlichen Stoffwechselprozessen mit. Da der Körper das Vitamin aber nur begrenzt selber herstellen kann, sind wir darauf angewiesen, dass wir Vitamin B3 mit unserer Nahrung – als Nicotinamid (NAM) oder als Nicotinsäure, die beispielsweise in Fleisch, Fisch und Bohnenkaffee enthalten sind – aufnehmen. Ein Wirkungsort des Vitamins ist der Darm, wo es den Erhalt einer gesunden Darmflora fördert. Ein Mangel von Vitamin B3 äußert sich daher auch häufig über Magen-Darm-Probleme wie Durchfall, Erbrechen oder Appetitlosigkeit.

„Da Vitamin B3 darüber hinaus im Tiermodell auch entzündungshemmend wirkt, haben wir uns die Frage gestellt, ob es Menschen helfen kann, die unter einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung leiden“, beschreibt Dr. Stefan Schreiber, Professor an der Christian-Albrechts-Universität und am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel sowie Sprecher des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI), die Zielsetzung des Forschungsansatzes. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen wird der Internist daher in den kommenden Jahren voraussichtlich rund 450 Patientinnen und Patienten, die unter einem leichten bis mittleren Verlauf der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung Colitis ulcerosa (CU) leiden, mit Vitamin B3 behandeln. Für dieses frühe Stadium der Erkrankung gibt es zurzeit nicht genügend effektive Therapieoptionen, die wenige Nebenwirkungen aufweisen und daher auch über sehr lange Zeiträume angewendet werden können. Eine frühe Behandlung könnte aber dazu beitragen, das Fortschreiten der Erkrankung zu stoppen oder zu verlangsamen.

Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Therapie ist es, dass eine ausreichende Menge des Vitamins an den Ort der Entzündungen im Dickdarm gelangt. Bei herkömmlichen Tabletten wird der potenzielle Wirkstoff bereits während der Magen- und Dünndarmpassage freigesetzt und gelangt von dort in den Blutkreislauf. Um dies zu vermeiden, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre Studie eine Tablettenform entwickelt, die das Vitamin erst verzögert entlässt. Der wissenschaftliche Name dieser Darreichungsform lautet CICR-NAM (engl. für controlled-ileocolonic-release nicotinamide).

Chronisch-entzündlich Darmerkrankungen (CED) sind komplexe Barriere-Erkrankungen. Die natürliche Barrierefunktion der Darmschleimhaut ist bei diesen Erkrankungen gestört, sodass Bakterien in den Bereich der Darmwand eindringen können. Das kann zu  Entzündungen im Verdauungstrakt führen, die oft schwere Bauchschmerzen und unkontrollierbare Durchfälle, teilweise mit blutigem Stuhl und allgemeinen Entzündungsbeschwerden hervorrufen. Die Lebensqualität der Betroffenen ist dadurch zum Teil stark eingeschränkt  und das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, steigt. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa stellen die beiden Hauptformen der CED dar. Beide Formen sind bislang nicht heilbar. Bei schwereren Verläufen werden Medikamente eingesetzt, die den Entzündungsprozess mildern oder das Immunsystem unterdrücken. Da diese Form der Therapie allerdings mit zum Teil starken Nebenwirkungen verbunden ist, kann sie nicht dauerhaft angewandt werden. Die Forschenden im Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) widmen sich schon seit vielen Jahren intensiv der Erforschung chronischer Entzündungen und neuartiger Therapieansätze.

Systematische Überprüfung des bisherigen Kenntnisstandes

In ihren Vorarbeiten konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits zeigen, dass Vitamin B3 im Tiermodell Dickdarmentzündungen lindert. Erste Hinweise sprechen dafür, dass es beim Menschen ähnlich wirken könnte. Die Forschenden werden nun prüfen, ob sich dieser positive Effekt bei den Studienteilnehmenden über einen längeren Zeitraum bestätigen lässt. Dafür werden sie den Patientinnen und Patienten zunächst über 12 Wochen CICR-NAM in einer Dosierung von einem oder zwei Gramm pro Tag verabreichen (Induktionsphase) und dies mit einem Placebo vergleichen. Die Patientinnen und Patienten, bei denen sich in den ersten Wochen ein positiver Effekt einstellt, erhalten darauffolgend über 40 Wochen täglich entweder ein Gramm CICR-NAM oder Placebo. Nach Abschluss beider Phasen werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prüfen, ob die Einnahme des Wirkstoffs die Krankheitsaktivität auch dauerhaft verringern oder sogar stoppen kann. „Falls diese Studie den positiven Einfluss von Vitamin B3 auf den Krankheitsverlauf bei CU bestätigen sollte, werden wir als nächsten Schritt gemeinsam mit einem Partner aus der pharmazeutischen Industrie eine Zulassungsstudie durchführen, damit wir zukünftig möglichst vielen Betroffenen bereits frühzeitig helfen können“, so Schreiber.

Große Kooperation – praxisnah ausgerichtet

Die Studie, die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, wird als Kooperation des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins, der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, des Kompetenznetzes Darmerkrankungen, dem Berufsverbands Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands e.V. und der Patientenvereinigung Deutsche Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung e.V. durchgeführt. Letztere umfasst rund 22.000 Mitglieder mit entzündlichen Darmerkrankungen und wird unter anderem die Perspektive der Betroffenen einbringen sowie bei der Rekrutierung einer möglichst diversen und repräsentativen Patientenkohorte helfen. Im Anschluss der Studie können sie die Studienergebnisse über ihre Patientenseminare und diverse Medienkanäle wie dem Mitgliedermagazin „Bauchredner“ oder ihrer Internet- und Facebookseite verbreiten.

Wie im Falle der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung liegen für viele Therapieentscheidungen noch keine ausreichend gesicherten Erkenntnisse aus der klinischen Forschung vor. Eine der zentralen Herausforderungen ist es, diese Erkenntnislücken zu schließen und für Patientinnen und Patienten das höchstmögliche Maß an therapeutischer Wirksamkeit bei gleichzeitiger Minimierung der Nebenwirkungen zu erreichen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt deshalb mit der Fördermaßnahme „Klinische Studien mit hoher Relevanz für die Patientenversorgung“ die systematische Beobachtung definierter Patienten- und Probandengruppen, um daraus bessere Behandlungsempfehlungen mit hohem Erkenntnisgrad abzuleiten.