Dezember 2022

| Newsletter 109

In Sicherheit, aber in seelischer Not: Therapeutische Hilfe für junge Geflüchtete

Unter den Geflüchteten in Deutschland gibt es einen sehr hohen Anteil an unbegleiteten Jugendlichen. Viele mussten Schlimmes ertragen. Der Forschungsverbund BETTER CARE untersucht, wie Betroffene schneller passende therapeutische Hilfe erhalten können.

Junger Geflüchteter lehnt an Pfosten

Wer braucht welche Hilfe? BETTER CARE untersucht den Unterstützungsbedarf junger Geflüchteter und engagiert sich dafür, Therapeutinnen und Therapeuten in der Behandlung von Traumafolgestörungen zu schulen und Sprachbarrieren zu überwinden. 

motortion / Adobe Stock 

Unbegleitete junge Geflüchtete tragen nach der Flucht, dem Verlust von sozialen Bindungen und der Ungewissheit über ihre Zukunft ein hohes Risiko, schwerwiegende psychische Gesundheitsprobleme zu entwickeln. Obwohl viele von ihnen eine Behandlung benötigen, haben sie nur einen begrenzten Zugang zu wissenschaftlich fundierten Behandlungsangeboten, denn Therapieplätze sind knapp. Häufig stehen auch sprachliche oder organisatorische Barrieren einer schnellen und passenden Behandlung im Wege.

Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsverbund BETTER CARE hat deshalb einen gestuften Versorgungsansatz speziell für unbegleitete jugendliche Geflüchtete entwickelt. Junge Menschen, die weniger stark belastet sind, bekommen ein anderes Unterstützungsangebot als diejenigen, die dringend intensive therapeutische Hilfe brauchen. Kosten und Nutzen des gestuften Versorgungsansatzes werden abschließend mit der bestehenden Versorgung in den Jugendhilfeeinrichtungen verglichen.

Die Federführung von BETTER CARE liegt bei Professorin Dr. Rita Rosner, der Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische und Biologische Psychologie und Leiterin der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie und ihr Team befragten bislang rund 400 junge Geflüchtete im Alter zwischen zwölf und 20 Jahren, die in Jugendhilfeeinrichtungen in ganz Deutschland wohnen. Im Interview beschreibt Rosner die Herausforderungen, vor denen Helfende und Hilfsbedürftige stehen.

Frau Professorin Rosner, wie ist die Situation im Herbst des Jahres 2022?

Allein in den Einrichtungen der Jugendhilfe leben zurzeit circa 17.500 unbegleitete junge Geflüchtete. Als Folge der Corona-Pandemie ist ihre Zahl vorübergehend zurückgegangen. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zählte in den Jahren 2015/16 über 60.000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit, 2021 waren es knapp 20.000. Mit erneut steigenden Zahlen ist jedoch zu rechnen.

Warum können junge Geflüchtete von BETTER CARE profitieren?

BETTER CARE ist ein aufsuchendes Projekt. Wir erreichen die jungen Menschen direkt dort, wo sie sind: in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in ganz Deutschland. Alle Teilnehmenden beantworten auf freiwilliger Basis einen Fragebogen, der nach psychischen Problemen und aktueller Lebensqualität fragt. Ein derartiges Screening ist zurzeit noch kein Standard in den Einrichtungen. In der Normalversorgung werden die Jugendlichen erst dann zu einem Psychotherapeuten geschickt, wenn sie auffällig werden. Häufig sind die Wartezeiten auf einen Therapieplatz jedoch sehr lang und deshalb kommen einige Jugendliche in Therapie, viele aber auch nicht.

Professorin Dr. Rita Rosner

Professorin Dr. Rita Rosner

privat

Welche Unterstützungsangebote bekommen die Jugendlichen nach der ersten Befragung?

Je nach Ergebnis der ersten Befragung erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine entsprechende Behandlungsempfehlung. Für junge Menschen mit milden psychischen Symptomen haben wir das Gruppenpräventionsprogramm „Mein Weg“ entwickelt, das von uns geschulte Mitarbeitende der Jugendhilfe selbst durchführen können. Für Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die klinisch auffällige psychische Symptome zeigen, suchen wir nach einem passenden Therapieplatz in der Nähe der Einrichtung. Nach sechs und noch einmal nach zwölf Monaten befragen wir die Jugendlichen erneut und vergleichen die Ergebnisse mit denjenigen von jungen Geflüchteten, die nicht an dem Programm teilgenommen haben.

Aber wie können Sie dem Mangel an Therapieplätzen begegnen?

Mit der traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie (TF-KVT) gibt es ein bewährtes, international gut untersuchtes Programm zur Behandlung von Traumafolgestörungen bei jungen Menschen. Wir haben ein Online-Programm entwickelt, um mehr niedergelassene Psychotherapeuten- und therapeutinnen kostenlos im Einsatz der TF-KVT zu schulen und diese Therapie in die Routineversorgung von jungen Geflüchteten mit Traumata einzubetten. Dazu haben wir deutschlandweit über 2.000 Therapeutinnen und Therapeuten angesprochen und es ist uns gelungen, bislang 117 von ihnen zu überzeugen, bei uns mitzumachen. Wir hoffen, dass wir damit einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung leisten. Die von uns erarbeiteten Materialien stehen auch nach Abschluss des Projektes weiter kostenlos zur Verfügung. 

Wie weit verbreitet sind psychische Probleme bei den von Ihnen untersuchten jungen Menschen?

Wir sind noch mitten in der Untersuchung, deshalb liegen uns noch keine endgültigen Ergebnisse vor. Eine erste Gruppe von 400 befragten Jugendlichen zeigte jedoch, dass circa 25 Prozent von ihnen Anzeichen für eine behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zeigten. Unbehandelt kann eine PTBS zu dauerhaften psychischen Problemen führen, die eine Integration in die Gesellschaft stark erschweren. Es ist wichtig, hier einzugreifen und mit der richtigen Unterstützung können wir hier wirklich etwas bewegen.

Sie haben auch Dolmetscherinnen und Dolmetscher in Ihr Projekt eingebunden – warum?

Weil die Sprache immer eine zentrale Hürde ist. Häufig ist es notwendig, Dolmetscherinnen und Dolmetscher in das sensible Therapiegespräch einzubeziehen. Viele der Dolmetscher sind jedoch medizinische Laien. Um sie zu unterstützen, bieten wir eintägige Schulungen an, die sie auf typische Situationen im Therapiegespräch vorbereiten. Hier lernen die Übersetzerinnen und Übersetzer beispielsweise, was genau eine posttraumatische Belastungsstörung ist und was eigentlich in einer Psychotherapie passiert – oder auch, was unter „Schweigepflicht“ zu verstehen ist, denn in manchen Ländern ist das Wissen hierzu nicht verbreitet. 

Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Flucht ist ein Dauerthema und wird es leider auch bleiben. Der Bedarf an wissenschaftlich abgesicherten Konzepten zur Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen bei geflüchteten Menschen ist groß. Die Fördermaßnahme des BMBF dazu ist daher eine richtig gute Sache und hilft, neue Ansätze in die Breite zu tragen.

BETTER CARE ist ja ein sogenanntes Disseminations- und Implementationsprojekt: Wir hoffen, dass die Menschen in der Praxis ­– wie beispielsweise niedergelassene Therapeutinnen und Therapeuten oder Mitarbeitende in Jugendhilfeeinrichtungen – die Ergebnisse unserer Arbeit als so hilfreich empfinden, dass sie auch nach Abschluss des Projektes mit dem gestuften Versorgungsmodell weitermachen. Jugendliche, die allein unterwegs sind, sind die verletzlichste Gruppe von Geflüchteten. Wenn wir ihnen helfen, möglichst unbelastet einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden, ist das für alle ein Erfolg.

BETTER CARE

Der Verbund BETTER CARE wird mit der Fördermaßnahme „Forschungsverbünde zur psychischen Gesundheit geflüchteter Menschen“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Im Rahmen der Fördermaßnahme arbeiten Forschende in sieben Forschungsverbünden und 31 Teilprojekten zusammen, um wissenschaftlich abgesicherte, kultursensitive Konzepte zur Diagnose, Therapie und Prävention von psychischen Erkrankungen bei geflüchteten Menschen zu entwickeln. Alle Verbünde haben ihre Arbeit im Februar 2019 aufgenommen. Das BMBF beabsichtigt, bis 2024 für die Forschungen bis zu 21,5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich wird knapp eine Million Euro dafür eingesetzt, verbundübergreifende Fragestellungen und Aufgaben im Rahmen von Querschnittsaktivitäten zu bearbeiten.

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Originalpublikation:

Rosner, R., Sachser, C., Hornfeck, F., Kilian, R., Kindler, H., Muche, R., Müller, L. R. F., Thielemann, J., Waldmann, T., Ziegenhain, U., Unterhitzenberger, J., & Pfeiffer, E. (2020). Improving mental health care for unaccompanied young refugees through a stepped care approach versus usual care+: Study protocol of a cluster randomized controlled hybrid effectiveness implementation trial. Trials, 21(1), 1013. https://doi.org/10.1186/s13063-020-04922-x

Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Rita Rosner
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Lehrstuhl für Psychologie I
Klinische und Biologische Psychologie
Ostenstr. 25
85072 Eichstätt
Telefon: 08421 93 – 21581
E-Mail: rita.rosner@ku.de