Professor Hans Hauner ist Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin mit Standorten in München und Weihenstephan. Er erforscht Ursachen, Prävention und Therapie chronischer Krankheiten wie Adipositas und Typ 2 Diabetes, die oftmals durch falsche und ungesunde Ernährung mit bedingt sind. Wie die Ergebnisse der Forsa-Umfrage zum Thema gesunde Ernährung eingeordnet werden können und wie er die Realität unserer Ernährungsgewohnheiten einschätzt, erläutert Professor Hauner im Interview.
Herr Professor Hauner, 84 Prozent der im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom Meinungsforschungsinstitut Forsa Befragten geben an, sich in der Regel gesund zu ernähren. Wie passt das mit der Tatsache zusammen, dass in Deutschland zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen übergewichtig sind? Ist die Selbsteinschätzung der Bevölkerung vielleicht nicht richtig?
Professor Hauner: Das ist wirklich ein überraschendes Ergebnis und lässt sich leider durch objektive Daten, etwa aus der Nationalen Verzehrsstudie II, keineswegs bestätigen. Nach den Ergebnissen dieser bundesweiten, repräsentativen Erhebung erreichen 87 Prozent der Deutschen die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für Gemüsekonsum nicht, 59 Prozent liegen unterhalb der Empfehlung für den Obstverzehr. Die Hälfte der Kohlenhydrate wird in Form von Zucker konsumiert, mehr als je zuvor, während die Aufnahme von günstigen Ballaststoffen recht niedrig liegt. Dagegen wächst der Verzehr eher ungesunder, energiereicher Fastfoodprodukte weiterhin Jahr für Jahr. Insgesamt ist die Ernährung der Mehrheit der deutschen Bürger in Wirklichkeit zu fett und kalorienreich und oft alles andere als ausgewogen und gesundheitsförderlich.
Hier schätzen sich offensichtlich viele Bürger falsch ein. Hinzu kommt vielleicht auch, dass die meisten Menschen wissen, wie wichtig Ernährung für Wohlbefinden und Gesundheit ist, und es dann nicht opportun erscheint, eigene Nachlässigkeiten einzugestehen.
In der Umfrage wird auch deutlich, dass die meisten wissen, worauf es bei gesunder Ernährung ankommt, also zum Beispiel viel Obst und Gemüse, wenig Fett und Zucker. Warum wird dieses Wissen dennoch im Alltag nicht ausreichend umgesetzt? Was sind die Gründe dafür?
Hier lassen sich verschiedene Erklärungen anführen. Die geltende Kennzeichnung von Lebensmitteln schafft leider wenig Transparenz für den Bürger. Noch schlimmer ist es im Bereich der vielen bequemen Fastfood-Angebote, wo jegliche Information über den hohen Energiegehalt und die meist mindere Qualität fehlt. Gutes Essen wird zwar verbal geschätzt, aber immer weniger Menschen machen sich die Mühe einer selbständigen Zubereitung. Die Zeit ist knapp, es soll vor allem schnell gehen.
Die Lebensmittelindustrie und Gastronomie bedient diese Bedürfnisse geschickt und nahezu perfekt. Essen muss zuerst schmecken, satt machen und soll nicht teuer sein, gesundheitliche Aspekte stehen meist am Ende der Auswahlkriterien, zumindest für die Mehrheit der Menschen.
Leider löst sich die alte Esskultur immer mehr auf. Viele Menschen essen aus Bequemlichkeit nur noch bei Gelegenheit, an denen es Tag und Nacht nicht mangelt. Dann greifen sie leider überwiegend zu „Convenience“-Produkten mit hohem Energiegehalt, der meist deutlich unterschätzt wird. Man braucht nur einen Blick in Tankstellen zu werfen, um diesen Punkt nachvollziehen zu können.
Um ernährungsmitbedingten Erkrankungen vorzubeugen, ist ja neben einer gesunden Ernährung auch ausreichend Bewegung nötig. Mangelt es auch daran?
Hier findet sich eine ähnliche Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und Wirklichkeit wie beim Thema Essen. Man kann platt formulieren, dass sich die Menschen hierzulande noch nie so wenig wie heute bewegt haben: Das gilt für Kinder und Jugendliche, die ihre Freizeit überwiegend sitzend vor dem Fernsehgerät oder dem Computer verbringen, wie auch für Erwachsene, von denen zwei Drittel völlig unsportlich sind und sich im Alltag nur minimal bewegen.
90 Prozent der Befragten geben an, beim Einkaufen nicht nur darauf zu achten, dass die Lebensmittel gut schmecken, sondern auch gesund sind. Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht hierbei zum Beispiel kalorienreduzierte Lebensmittel oder auch Fertigprodukte?
„Viel zu oft greifen die Menschen zu ungesunder Nahrung“, sagt Professor Hauner.Das ist aus meiner Sicht ebenso wenig nachvollziehbar. Der Blick eines Kundigen in den Einkaufskorb im Supermarkt genügt meist bereits, um diese Angaben zu bezweifeln. Der Absatz kalorienreduzierter Lebensmittel wächst zwar, dass bedeutet aber noch lange nicht, dass damit die Energieaufnahme zurückgeht. Amerikanische Studien deuten darauf hin, dass der Griff nach kalorienärmeren Lebensmitteln auch Alibifunktion hat, quasi um „das schlechte Gewissen“ zu beruhigen. Das Hauptproblem ist aber, dass der normale Bürger aufgrund unzureichender Lebensmittelkennzeichnung weder den Energiegehalt noch die Qualität vieler Lebensmittel richtig einschätzen kann bzw. sich allzu leicht täuschen lässt. Richtig ist aber auch, dass es im großen Sortiment der Supermärkte viele gesunde und schmackhafte Lebensmittel gibt, die man gezielt wählen kann.
Besonders ist die Situation sicher auch bei den Kinderprodukten…
Kinderlebensmittel sind für mich ein besonderes Ärgernis, weil es sich dabei in aller Regel nicht um vernünftige Lebensmittel handelt, die man Kindern empfehlen sollte oder die sie wirklich brauchen. Ziel der Hersteller ist es, durch raffinierte Werbung Kinder zu verführen und das gelingt in dieser Altersgruppe leider ziemlich gut. Hier sollte sich unsere Gesellschaft fragen, ob wir das wollen und damit bewusst in Kauf nehmen, dass Kinder auf eine falsche Spur in Sachen Ernährung gesetzt werden.
Ist Ihrer Meinung nach die Bevölkerung ausreichend über den Einfluss von Ernährung auf die Gesundheit informiert?
Ernährung ist heute in allen Medien ein Megathema, dennoch waren die Menschen nach meiner Wahrnehmung in Ernährungsfragen noch nie so unsicher. Dies kann aber nicht wirklich überraschen, weil viele Botschaften widersprüchlich oder irreführend sind. Für den normalen Bürger ist es wirklich schwer zu erkennen, was empfehlenswert ist und was nicht bzw. wer oder welche Interessen hinter bestimmten Aussagen stecken.
Erfreulich ist aber auch, dass der Anteil der Menschen wächst, die echtes Interesse an einer gesunden Ernährung haben und dafür etwas tun wollen. Interessanterweise sind das eher ältere Menschen, denen klarer ist, dass Wohlbefinden und Gesundheit keine Selbstläufer sind.
Wo besteht dringender Forschungsbedarf?
Bei vielen Fragen der Gesundheit verstehen wir immer noch zu wenig, wie Ernährung insgesamt und Ernährungskomponenten Krankheiten fördern oder davor schützen. Auch die Wechselwirkung zwischen individueller genetischer Ausstattung und Ernährung wird bisher kaum verstanden. Ein schwieriges und zentrales Problem ist weiterhin, das Essverhalten der Menschen möglichst objektiv zu erfassen. Dennoch, viele wichtige Ernährungsprinzipien für ein langes und gesundes Leben kennen wir, schaffen es aber nicht, dieses Wissen ausreichend in der Bevölkerung zu kommunizieren und gesundheitsförderliches Essverhalten zu fördern. Das bedeutet, dass wir bei diesen Themen extrem interdisziplinär arbeiten müssen, von der Biochemie bis zur Verhaltenspsychologie und Kommunikationswissenschaft.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bildquelle Prof. Hauner: Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin der TU München
Dieser Artikel ist auch im Newsletter Nr. 63 / August 2013 erschienen.