Für ältere und pflegebedürftige Menschen ist SARS-CoV-2 besonders gefährlich; die aktuelle Pandemie stellt Pflegeeinrichtungen vor große Herausforderungen. Forschende der Universität Witten/Herdecke wollen ihnen Handlungsempfehlungen an die Hand geben.
Menschen in Pflege-, Palliativ- und Hospizeinrichtungen trifft die aktuelle Pandemie besonders hart. Um die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen, müssen Patientinnen und Patienten ebenso wie das Personal mit teils einschneidenden Maßnahmen geschützt werden. Oft ist dies eine kaum zu bewältigende Herausforderung mit weitreichenden Auswirkungen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke untersuchen im Vorhaben InPace, welche Folgen die mit der Pandemie einhergehenden Auflagen haben. Ihnen geht es dabei vor allem um ethische, soziale und rechtliche Aspekte: Was zum Beispiel haben Pflegekräfte als besondere Herausforderung empfunden? Welche Strategien wurden auf individueller und organisatorischer Ebene entwickelt, um mit den notwendigen Einschränkungen umzugehen? Wie wurde diese von den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen wahrgenommen? Wie lassen sich die getroffenen Schutzmaßnahmen mit grundlegenden Patientenrechten vereinbaren?
Im Interview erläutert Projektkoordinator Professor Dr. Patrick Brzoska sein Vorhaben und das Vorgehen der Forschenden.
Pflegeeinrichtungen effektiv und patientenorientiert unterstützen
Sehr geehrter Herr Professor Brzoska, die oft einschneidenden Maßnahmen in der Corona-Pandemie schaffen im Pflegebereich ein besonderes Dilemma – wo sehen Sie die größten Schwierigkeiten?
In der Pflege, und mehr noch in der Palliativ- und Hospizversorgung, sind die Herausforderungen besonders vielschichtig, da Patientinnen und Patienten in diesen Bereichen nicht nur besonders anfällig für einen schweren Verlauf von COVID-19 sind, sondern Maßnahmen, die notwendig sind, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, die Pflege selbst erschweren. Um sowohl ihr Personal als auch Patientinnen und Patienten zu schützen, mussten viele Einrichtungen Kontaktbeschränkungen einführen – oft mit der Folge, dass Angehörige nicht mehr zu Besuch kommen und sich im Falle sterbender Patientinnen und Patienten nicht persönlich von ihren Angehörigen verabschieden konnten und können. Darüber hinaus sind auch Freiwillige und Seelsorgerinnen und Seelsorger in ihrer Arbeit erheblich eingeschränkt. Teilweise müssen Pflegende und anderes klinisches Personal die fehlende Unterstützung durch Angehörige sowie ehrenamtliche Kräfte kompensieren. Insgesamt wird die ohnehin schon hohe Belastung für alle Beteiligten hierdurch weiter verstärkt.
Haben die Anbieter in der Pflege-, Palliativ- und Hospizversorgung sich darauf eingestellt?
Alle Einrichtungen mussten in kürzester Zeit auf eine veränderte und bis dahin unbekannte Situation reagieren. Hierbei haben sie unterschiedliche Strategien entwickelt, jeweils angepasst an die eigene personelle Ausstattung und Infrastruktur, sowie an die in der jeweiligen Region geltenden Vorgaben und Empfehlungen.Bislang ist wenig darüber bekannt, welche Erfahrungen mit diesen Strategien gemacht wurden und ob sie auch in anderen Einrichtungen im Sinne von Good-Practice-Ansätzen genutzt werden können.
Wie kann InPace Orientierungshilfe leisten?
Wir wollen einen Handlungskatalog entwickeln, in dem die Elemente und entscheidenden Faktoren von Good-Practice-Ansätzen ermittelt und Empfehlungen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen gegeben werden. Wir möchten damit Versorgungseinrichtungen unterstützen, eine sichere, effektive und patientenorientierte Versorgung während Pandemien, aber auch anderer Public-Health-Krisen, aufrechtzuerhalten.
Das Projekt ist Anfang Juli an den Start gegangen – was sind die nächsten Schritte?
Aktuell führen wir eine systematische Literaturrecherche durch, um bestehende Richtlinien und Empfehlungen im Hinblick darauf zu ermitteln, wie Pflege-, Palliativ- und Hospizpflegeeinrichtungen den Herausforderungen begegnen können, die sich durch Pandemien ergeben. Um erste Einblicke in die Art und Weise zu ermöglichen, wie Anbieter die neuen Beschränkungen und Herausforderungen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen gegenüber kommunizieren, arbeiten wir parallel an einer Dokumentenanalyse der Internetseiten der jeweiligen Einrichtungen. Danach folgen qualitative Interviews mit Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen sowie Befragungen von Einrichtungen in ganz Deutschland. Die Ergebnisse unserer Arbeit diskutieren wir abschließend mit den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen sowie Expertinnen und Experten, um gemeinsam Good-Practice-Ansätze zu identifizieren und daraus entsprechende Empfehlungen abzuleiten. Die Kriterien werden im Rahmen des Forschungsprozesses gemeinsam mit den Akteuren entwickelt, dabei geht es um Aspekte wie Patientenorientierung, Patientenschutz und offene Kommunikation.
Haben Sie bereits erste Erkenntnisse gewinnen können?
Aus Gesprächen mit unseren Praxispartnern, ebenso wie aus der bisherigen Forschung zum Thema, wissen wir, dass die Herausforderungen, vor denen Einrichtungen seit dem Beginn der Pandemie stehen, hoch sind. Das Spektrum der eingesetzten Strategien ist breit; mit einzelnen Maßnahmen wurden jeweils positive und negative Erfahrungen gemacht. Es gilt, diese systematisch zu erheben und zu ermitteln, welche Strategien ggf. auch für andere Einrichtungen empfohlen werden können.
Mit Blick über die aktuelle Corona-Pandemie hinaus: Wie werden Sie Ihre Forschungsergebnisse verwerten?
Ein wichtiger Aspekt ist für uns der Transfer von der Forschung in die Praxis. Bei der Erarbeitung der Empfehlungen beziehen wir Pflegebedürftige, Angehörige und Experten aus Wissenschaft und Praxis frühzeitig ein, um die Bereitschaft zu erhöhen, vorgeschlagene Strategien anzuwenden und damit Veränderungsprozesse einzuleiten. Wir werden unsere Erkenntnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften und auf Kongressen veröffentlichen und planen eigene Workshops, auf denen wir uns mit den betroffenen Akteuren austauschen wollen. Zudem wollen wir die Ergebnisse des Projekts bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern auf lokaler, regionaler und Bundesebene bekanntmachen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung öffnete zu Beginn der SARS-CoV-2 Pandemie das Rapid Response Modul der „Richtlinie zur Förderung eines Nationalen Forschungsnetzes zoonotische Infektionskrankheiten“ für einen Förderaufruf zur Erforschung von COVID-19. Ab dem 3. März 2020 konnten Forschende Anträge stellen, um zum Verständnis des Virus und dessen Ausbreitung beizutragen sowie um therapeutische und diagnostische Ansätze gegen COVID-19 zu entwickeln und um ethische rechtliche und sozio-ökonomischen Implikationen (ELSA) im Zusammenhang mit der Pandemie zu erforschen.