In Deutschland leiden mindestens 40 Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung. Sie sind sowohl für die Betroffenen als auch für die Angehörigen eine erhebliche Belastung und auch der häufigste Grund für Frühverrentungen.
Was genau verbirgt sich hinter dem „Forschungsnetz psychische Erkrankungen“?
Professor Dr. Dr. Michael Bauer: Das vom BMBF für vier Jahre geförderte „Forschungsnetz psychische Erkrankungen“ ist ein bundesweiter Zusammenschluss von neun Forschungsverbünden. Jeder einzelne Verbund besteht aus bis zu neun Partnerinstitutionen, die überwiegend an den psychiatrischen Universitätsklinken der medizinischen Fakultäten angesiedelt sind. Alle wichtigen psychischen Erkrankungen werden in diesem Netzwerk beforscht.
Wie kommt es bei einem Zusammenschluss von neun Forschungsverbünden zu einer gemeinsamen Strategie im Forschungsnetz?
Psychische Erkrankungen sind hochkomplexe Gehirnerkrankungen mit multifaktoriellen Ursachen, deren Entstehung und Verlauf auch durch Umweltfaktoren und das soziale Umfeld der betroffenen Personen beeinflusst werden. Einzelne universitäre Institutionen können heute solche komplexen Fragestellungen nicht mehr alleine beantworten oder methodisch hochwertige klinische Studien erfolgreich durchführen. Neben der notwendigen Expertise in verschiedenen Bereichen, die ein einzelner Forschungsstandort nicht vorhalten kann, bedarf es bei der Entwicklung neuer Therapieformen institutionsübergreifender Anstrengungen. Im Forschungsnetz wird diese Expertise unter den Partnern ausgetauscht. Regelmäßige Zusammenkünfte und Konferenzen sollen diesen Austausch fördern. Neben den einzelnen Forschungsprojekten der Verbünde wird es auch drei sogenannte Querschnittsprojekte geben, in denen krankheitsübergreifend nach gemeinsamen Ursachen der Krankheitsentwicklung und nach neuen Diagnostikmöglichkeiten gesucht wird.
Was kann das Forschungsnetz zu einer besseren Erforschung psychischer Störungen und zu einer besseren Versorgung der Betroffenen beitragen?
Der Bedarf an wissenschaftlich begründeten Konzepten für eine nachhaltig wirksame Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge von psychischen Erkrankungen ist enorm hoch. Solche Konzepte sollen im Forschungsnetz erforscht und optimiert werden. Hierfür werden insgesamt mehr als 50 wissenschaftliche Einrichtungen aus ganz Deutschland gemeinsam an den bedeutendsten psychischen Erkrankungen unserer Zeit forschen, das sind Schizophrenie und psychotische Störungen, bipolare Störungen, Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, ADHS und Autismus. Zudem werden krankheitsübergreifende Konzepte zur Anwendung von Stimulationstechniken des Gehirns erforscht.
Welche konkreten Projekte werden Sie im Netz auf den Weg bringen?
Ein Kernthema verschiedener Verbünde ist eine verbesserte Prävention psychischer Erkrankungen. Zum Beispiel möchten wir Menschen dabei unterstützen, frühzeitig zu erkennen, ob sie ein erhöhtes Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen haben. Ein weiteres Ziel des Forschungsnetzes ist es, sogenannte Prodromal-Zustände wissenschaftlich fundiert zu beschreiben. Unter Prodromal-Zuständen versteht man die Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch einer psychischen Erkrankung. Uns interessiert: Was passiert eigentlich in dieser Zeit, wie verändern sich das Verhalten und Denken der Betroffenen?
Weitere wichtige Themen sind der Einsatz von moderner IT-Technologie zur Verbesserung der Diagnostik und Früherkennung von Krankheitsrückfällen und zur Prognose des weiteren Verlaufs der Krankheiten – natürlich auf freiwilliger Basis. Auch die Untersuchung neuer psychotherapeutischer und medikamentöser Verfahren ist ein Schwerpunkt im Forschungsnetz.
Welches Projekt werden Sie in Dresden angehen?
In einem unserer Projekte geht es zum Beispiel um die Anwendung von Smartphones und einer eigens entwickelten App bei Menschen mit bipolarer Störung, einem Krankheitsbild mit einer unvorhersehbaren raschen Abfolge manischer und depressiver Episoden. Unsere App erlaubt es den behandelnden Ärzten, den unmittelbaren Kontakt mit den Patientinnen und Patienten zu halten. Hintergrund für dieses Projekt ist, dass ein Mensch in einer Manie praktisch permanent unterwegs ist. Im Extremfall schlafen die Menschen beispielsweise nicht mehr, sind hyperaktiv und unterschätzen Risiken und Gefahren. Durch den Kontakt über das Smartphone können wir – wenn vom Patienten oder der Patientin gewünscht – praktisch in Echtzeit die Bewegungsmuster und Aktivitäten der Person verfolgen und dann bei Bedarf eine schnelle Intervention einleiten. Eine schwere Episode, die Wochen und Monate dauern kann, kann so möglichst früh abgefangen werden. Das Smartphone wird für die Studienzeit von uns gestellt. Wenn unser Projekt Erfolg hat, hätten die Ärzte ein ähnliches Instrumentarium dann auch für Patientinnen und Patienten mit einer Depression in der Hand. Hier könnte die Smartphone-App möglicherweise dabei helfen, suizidgefährdete Menschen im Alltag ärztlich zu begleiten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Ansprechpartner:
Professor Dr. Dr. Michael Bauer
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
0351 458-2760
0351 458-4324
Michael.Bauer@uniklinikum-dresden.de