„Keine verbindlichen Kriterien für gute Pflege“

Interview mit Dr. Eckart Schnabel, Gerontologe an der Universität Dortmund, über die Lebensqualität von Heimbewohnern und Fragebögen für Demenzpatienten.

Herr Dr. Schnabel, wie viele Menschen leben in Deutschland in Pflegeheimen?
Ungefähr zwei Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Von ihnen leben etwa 600.000 in Heimen, etwa 1,4 Millionen werden von den Angehörigen zu Hause versorgt.

Wie viele Heimbewohner leiden an einer Demenz?
Man kann davon ausgehen, dass mindestens 50 bis 60 Prozent der Heimbewohner an einer Demenz leiden. Insgesamt ist in Deutschland zurzeit etwa eine Million Menschen demenzkrank. Wegen der demografischen Entwicklung ist mit einer weiteren Zunahme zu rechnen. Schon heute brauchen wir immer mehr Heimplätze. Ihre Zahl hat zum Beispiel von 2001 bis 2003 um etwa sechs Prozent zugenommen. 


Wie zufrieden sind Heimbewohner mit ihrer Situation?
Hier besteht ein Widerspruch zwischen der überwiegend negativen öffentlichen Wahrnehmung von Heimen und den Antworten, die man erhält, wenn man Heimbewohner befragt. Die Mehrheit von ihnen gibt nämlich an, zufrieden zu sein. Allerdings sagt allgemeine Zufriedenheit wenig über konkrete Probleme aus. Wenn man zum Beispiel fragt, wie zufrieden jemand mit dem Essen ist, denkt er in erster Linie an den Geschmack und antwortet meistens „ganz zufrieden“. Wichtige Aspekte wie Lautstärke und Atmosphäre im Speisesaal oder Hilfe beim Essen durch das Personal bleiben unberücksichtigt. Außerdem kommt es darauf an, wer fragt. Dem Pflegepersonal geben Heimbewohner eher positive Antworten. 

Wo sehen Sie Defizite in der Heimbetreuung?
Wir haben untersucht, wie lange sich das Personal in Pflegeheimen mit jedem einzelnen Bewohner beschäftigt - im Schnitt etwa 80 Minuten pro Tag, zuzüglich 50 Minuten für indirekte Leistungen. 14 Minuten entfallen auf psychosoziale Betreuung und emotionale Zuwendung. Das reicht nicht. Der Rest der Zeit ist mit Körperpflege, Hilfe beim Essen und ähnlichen Tätigkeiten ausgefüllt. In vielen Heimen finden außerdem kaum Aktivitäten statt, die den Bewohnern Spaß machen. Es wird zwar oft gebastelt oder Sport getrieben. Die alten Menschen werden aber selten gefragt, ob sie überhaupt Lust dazu haben. Darüber hinaus bestehen Defizite in den Versorgungsstrukturen. Wir haben in Deutschland nach wie vor keine im Konsens vereinbarten Kriterien dafür, was gute Pflege sein soll. Es gibt also keine klare Orientierungshilfe für die Heime. Außerdem wird der Erfolg der Pflege zu wenig überprüft. Wenn man feststellt, dass ein alter Mensch seine körperlichen oder geistigen Fähigkeiten durchaus verbessern könnte, muss man sich Ziele setzen und den Patienten entsprechend fördern. Anschließend muss man überprüfen, ob die Ziele erreicht wurden und beurteilen, ob die Betreuung erfolgreich war oder nicht. Diese Form von Pflege findet kaum statt.
 
Wie kann man die Lebensqualität demenzkranker Menschen verbessern?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Man sollte auf die Biografie der Patienten eingehen und Emotionen ansprechen, indem man zum Beispiel schöne Erlebnisse von früher erwähnt. Wenig sinnvoll ist es, eine desorientierte Person von der Realität überzeugen zu wollen. Wenn sich jemand damit wohl fühlt, dass er denkt, in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu leben, sollte man das akzeptieren. Der Alltag demenzkranker Menschen im Heim lässt sich erleichtern, indem man das Wohnumfeld adäquat gestaltet. Hilfreich sind viele Fenster zur besseren Orientierung, viel Licht und einheitliche Markierungen von Fluren und Etagen. Wenn Toilettentüren einheitlich farbig gestaltet sind, zum Beispiel mit einem großen roten Klodeckel drauf, finden auch Menschen mit Orientierungsstörungen zum Klo. Und wenn die Kühlschranktür durchsichtig ist, erkennen sie auch, wo es etwas zu Essen gibt.

Gibt es Alternativen zu klassischen Alten- und Pflegeheimen?
Es gibt Alternativen, zum Beispiel kleinere betreute Wohneinheiten in Form von Wohngemeinschaften. Gute Erfahrungen wurden mit dem so genannten französischen Cantou-Konzept gemacht. Hier werden den alten Menschen sinnvolle Tätigkeiten übertragen, und sie haben die Gelegenheit, den Alltag mitzugestalten. Sie schälen zum Beispiel Kartoffeln oder schneiden Gemüse. Was das bewirken kann, kennt man ja von sich selbst - wenn man in der Küche arbeitet und die ganze Zeit den Braten im Ofen riecht, macht das Essen viel mehr Spaß. Aber solche Modelle sind nur in kleineren Wohneinheiten umsetzbar. Wegen der demografischen Entwicklung wird es nicht möglich sein, alle demenzkranken Menschen so unterzubringen.