Dezember 2020

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Knochenmarkspenden unter Geschwistern – und wie sie Familien verändern

Knochenmarkspender zur Therapie von Blutkrebserkrankungen finden sich häufig unter Geschwistern. Die Transplantationen retten viele Leben – werfen aber auch ethische Fragen auf. Diese hat ein vom BMBF gefördertes Projekt systematisch erforscht.

Gruppenbild von Professorin Dr. Christina Schües, Dr. Martina Jürgensen, Madeleine Herzog, Professor Dr. Christoph Rehmann-Sutter (v. l. n. r.)

Professorin Dr. Christina Schües, Dr. Martina Jürgensen, Madeleine Herzog, Professor Dr. Christoph Rehmann-Sutter (v. l. n. r.)

Brita Dufeu/IMGWF

Anders als bei Spendern aus anonymen Registern erzeugt jede Familienspende eine konkrete „Retterbeziehung“. Die Therapie wirkt daher über den medizinischen Erfolg – das Überleben des Kindes – oder über den Misserfolg in die Familien hinein und wirft moralische Konflikte auf: Ein gesundes Kind muss verletzt werden, um Knochenmark zu entnehmen. Manchmal entstehen auch Schuldgefühle seitens der Spenderkinder, deren Immunzellen das erkrankte Geschwister nicht retten konnten. „Die Erfahrung der lebensbedrohlichen Krankheit und die Ereignisse der Transplantation zwischen Geschwisterkindern sind für Familien über viele Jahre hinweg ein Thema“, fasst Professor Dr. Christoph Rehmann-Sutter die Ergebnisse der Studie zusammen. Der Philosoph und Bioethiker lehrt Theorie und Ethik der Biowissenschaften am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck (IMGWF). Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – Dr. Martina Jürgensen, Madeleine Herzog, Professorin Dr. Christina Schües und Rehmann-Sutter – erforschten in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt erstmals die psychosozialen Langzeiteffekte von Familienspenden zwischen Geschwistern. „Unsere Ergebnisse sollen Betreuungs- und Begleitangebote verbessern und den betroffenen Familien künftig helfen, die durchlebten Sorgen und Konflikte besser zu verarbeiten“, so Rehmann-Sutter.

Wie eine Knochenmarksspende familiäre Beziehungen konkret beeinflussen kann, das haben die Forschenden auf der Basis von 16 Familien- und 66 Einzelinterviews untersucht. Die Betroffenen haben dabei ihre eigenen Geschichten erzählt und über ihre Erfahrungen berichtet. „Zum Zeitpunkt der Transplantation waren die interviewten Spenderinnen und Spender mindestens zwei Jahre alt. Mit einigen der Betroffenen sprachen wir sehr kurz vor oder nach der Therapie, mit anderen bis zu 20 Jahre danach“, so Rehmann-Sutter. Zum Zeitpunkt der Interviews waren die Spenderinnen und Spender mindestens elf Jahre alt, einige bereits erwachsen.

Familien werden selbst handlungsfähig gegen die Krankheit

Die Möglichkeit, ein erkranktes Kind durch die Stammzellenspende eines Geschwisters retten zu können, empfanden alle Befragten als großes Glück. „Viele sprachen von einem ‚Lottogewinn‘."

Knochenmarkspenden zwischen Geschwistern

Leukämien sind die häufigsten Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Eine Transplantation gesunden Knochenmarks ist dann oft die lebensrettende Therapie der Wahl. Zunächst wird eine Chemotherapie durchgeführt. Sie zerstört die kranken Zellen und unterdrückt zugleich das Abwehrsystem, um Abstoßungsreaktionen nach der Transplantation zu vermeiden. Danach erhält die Leukämiepatientin bzw. der Leukämiepatient per Transfusion eine Knochenmarkspende – und damit jene lebensrettenden Stammzellen, die im Körper des erkrankten Kindes ein gesundes Immunsystem aufbauen sollen. Damit das gespendete Immunsystem seinen „neuen Körper“ nicht als fremd erkennt und angreift, müssen die Gewebemerkmale von Spender und Empfänger weitgehend übereinstimmen. Die Chance, geeignetes Knochenmark zu finden, ist unter Geschwistern besonders hoch – sie liegt bei rund 25 Prozent und damit weit über dem Durchschnitt. Somit kommt es in Deutschland pro Jahr zu etwa 100 bis 200 Knochenmarkspenden zwischen Geschwisterpaaren. Die Erfolgsquote hängt dabei stark von der Art der Erkrankung ab.

Die Familienspende als mögliche Lösung der Krise befreite die Betroffenen von einer tief empfundenen Hilflosigkeit. Plötzlich waren sie handlungsfähig gegen eine Krankheit, die sie bislang als Schicksal hatten hinnehmen müssen“, erklärt der Philosoph und Bioethiker.

Bei minderjährigen Spendern und Empfängern müssen die Erziehungsberechtigten in die Therapie einwilligen. „Ein großer Teil der von uns befragten Eltern fasste die Knochenmarkspende des Geschwisterkindes als ‚moralische Familienpflicht‘ auf“, so Rehmann-Sutter. Die Entnahme von Knochenmark kann junge Spenderinnen und Spender jedoch körperlich belasten – etwa in Form langandauernder Muskel- und Rückenschmerzen. Daher sei es wichtig, die Spenderkinder in die Entscheidung miteinzubeziehen. Schon im Alter von drei bis vier Jahren würden sie begreifen, dass es um Leben und Tod geht und dass sie ihren Bruder oder ihre Schwester retten können, erklärt Rehmann-Sutter. „Rückblickend hoben viele Spendenden hervor, wie wichtig es ihnen war, auch als Kind gefragt zu werden und sich bewusst für die Prozedur zu entscheiden“, so der Forscher. Selbst bei den zwei befragten Familien, in denen das erkrankte Familienmitglied letztendlich verstarb, sei es für die Betroffen im Nachhinein wichtig, alles versucht zu haben.

Geschwisterspenden verändern die Beziehungen in den Familien

Die meisten Familien berichteten, dass die Krise sie „zusammengeschweißt“ habe – obgleich eine Geschwisterspende die Familienbeziehungen verändern und auch belasten kann. So empfanden es beispielsweise die Eltern als ein Dilemma, sich nicht gleichermaßen um das kranke und die gesunden Kinder kümmern zu können. „Die Transplantationszentren sind in der Regel nicht vor Ort. Daher teilen sich die Eltern oft auf: Während ein Partner regelmäßig in das Krankenhaus reist oder dort zeitweise mit dem erkrankten Kind lebt, organisiert der andere Elternteil – oft mithilfe der Großeltern – die Versorgung der gesunden Kinder, das Ganze neben der beruflichen Belastung“, erklärt Rehmann-Sutter. „Viele äußerten das Gefühl, ihrer Elternrolle nicht gerecht zu werden. Sie litten darunter, ihren Kindern keine Sicherheit vermitteln zu können, oder fürchteten auch, das Spenderkind könne sich ‚benutzt‘ fühlen.“ Eltern und insbesondere auch die Kinder selbst haben berichtet, dass sie im Zusammenhang mit der Erkrankung des einen Kindes neue Verantwortungen und „Elternsorgen“ übernommen hätten. Ältere Kinder übernahmen demnach während der Krankheitsphase ihres Geschwisters Aufgaben im Haushalt und manchmal im elterlichen Betrieb, kümmerten sich selbstständig um eigene Belange, beispielsweise in der Schule oder bei der Suche eines Ausbildungsplatzes und – dies ist eine Reaktion, die die Familienbeziehungen auch nachhaltig prägen können – sie versuchten, ihre Eltern zu „schützen“ und zu entlasten, indem sie ihre eigenen Probleme nicht äußerten und eigenständig zu lösen versuchten.

Die ELSA-Forschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)

Das BMBF hat das Projekt „Stammzelltransplantationen und Retterbeziehungen: Ethik, narrative Rekonstruktion und psychosoziale Implikationen pädiatrischer Blutstammzelltransplantationen“ im Rahmen der ELSA-Forschung gefördert. Der Name des Förderschwerpunktes leitet sich aus den englischen Begriffen „ethical“, „legal“ und „social aspects“ (ethische, legale und soziale Aspekte) ab. Die ELSA-Forschung soll wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der modernen Lebenswissenschaften ermöglichen. Sie widmet sich dabei vielfältigen Themen – von der Stammzellforschung über die Genom-Editierung bis hin zum Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin. Seit 1997 fördert das BMBF die ELSA-Forschung mit rund 4,5 Millionen Euro pro Jahr.

Eine besondere Herausforderung für nicht spendende Geschwister kann dadurch entstehen, dass sie keine aktive Rolle in dem für die Familie so wichtigen Transplantationsgeschehen einnehmen. Sie berichteten, sich dadurch zum Teil an den Rand gedrängt, hilflos und ungesehen gefühlt zu haben.

„Familiennarrative“ als zentrale Elemente der Krisenverarbeitung

Wenn eine Stammzellspende das erkrankte Geschwister nicht zu retten vermag, kann das die Spenderkinder sehr belasten. „So berichtete uns eine zum Zeitpunkt der Therapie 15-jährige Spenderin, dass der Tod der Schwester starke Schuldgefühle bei ihr ausgelöst habe“, so Rehmann-Sutter. „In diesem Fall entwickelten Mutter und Tochter gemeinsam ein Narrativ vom ‚Familienkörper‘, vom Teil des Körpers der Spenderin, der im Körper der Schwester gegen den Krebs gekämpft habe, der die Krankheit aber nicht habe besiegen können, weil sich die Geschwister einfach zu ähnlich gewesen seien“, so der Bioethiker. Bei diesen Familiennarrativen gehe es nicht um medizinisch korrekte Erklärungen, sondern um begreifbare Bilder. Diese Form des „selbstwirksamen Erzählens“ sei in vielen befragten Familien ein zentraler Baustein der Verarbeitungsstrategie, so Rehmann-Sutter.

Aktuell arbeitet das Forschungsteam an einem Buch mit empirischen Ergebnissen, Kommentaren und Analysen. Die in dem Projekt gewonnenen Ergebnisse sind nützlich für viele Personengruppen – vom medizinischen Fachpersonal bis hin zu Kreisen, die sich mit den ethischen Fragen der Lebendspende und der Stammzellmedizin beschäftigen. Und natürlich sollen sie helfen, Unterstützungsangebote für die betroffenen Familien zu verbessern. So haben die Erzählungen der Betroffenen deutlich gezeigt, dass Betreuungs- und Begleitangebote alle Familienmitglieder adressieren müssen, um individuelle psychische und familiäre Belastungen zu minimieren.

Originalpublikation:

Herzog M, Jürgensen M, Rehmann-Sutter C, Schües C. Stem cell transplantation between siblings as a social phenomenon. The Child’s Body and family decisionmaking. Springer (in press)

Erste Ergebnisse wurden auf der Internetseite des IMGWF veröffentlicht: www.imgwf.uni-luebeck.de/forschung/kindeswohl/geschwisterspende-empirisch.html

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter
Theorie und Ethik der Biowissenschaften
Institut für Medizingeschichte und
Wissenschaftsforschung
Universität zu Lübeck
Königstraße 42
23552 Lübeck
0451 3101-3415
rehmann@imgwf.uni-luebeck.de