Langzeitfolgen schwerer Schädel-Hirn-Traumata bei Kindern oft unterschätzt

Die häufigste Ursache schwerer Schädel-Hirn-Verletzungen im Kindesalter sind Verkehrsunfälle. Durch gezielte neuropsychologische Therapie und Nachbetreuung können die Unfallfolgen begrenzt und ausgeglichen werden. Teil der Auseinandersetzung mit dem erlittenen Unglück kann es sein, im Rahmen der Rehabilitation die Unfallszene zu malen - so wie es hier ein 11-jähriges Mädchen getan hat.
(Quelle: Neurologisches Rehabilitationszentrum Friedehorst/BMBF)

Wer verhaltensauffällige Kinder, die eine Kopfverletzung erlitten haben, voreilig mit dem Etikett "psychisch gestört" versieht, tut ihnen Unrecht. Denn hinter Konzentrationsstörungen oder dem Hang zum Einzelgänger können handfeste neuropsychologische Defizite stecken. Am Neurologischen Rehabilitationszentrum Friedehorst in Bremen werden die langfristigen Auswirkungen von Schädel-Hirn-Traumata (SHT) ermittelt (Trauma = Verletzung). In der Vergangenheit galt die Perspektive von Kindern mit SHT als überwiegend gut, weil ihre Gehirne noch sehr anpassungsfähig sind und die Möglichkeit haben, Schäden auszugleichen. Erst in den letzten Jahren veränderten neue Studien die Sichtweise. Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass Schäden bleiben und Defizite sich erst nach Jahren bemerkbar machen können, auch wenn bis dahin die Entwicklung der Kinder wenig auffällig verlief. Die Friedehorster Untersuchung ist Teil des von der Universität Kiel koordinierten "Verbundes Neurotrauma". Insgesamt sechs regionale Forschungsverbünde zur Neurotraumatologie und neuropsychologischen Rehabilitation werden seit 1994 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 25 Millionen Euro gefördert.


Junge Gehirne reagieren empfindlicher
Die Wissenschaftler aus Friedehorst untersuchten 140 Jugendliche, die in ihrer Kindheit ein schweres SHT erlitten hatten - meist infolge eines Verkehrsunfalls. Im Schnitt lagen neun Jahre zwischen Verletzung und Nachuntersuchung. Die Ergebnisse waren eindeutig: Langzeitfolgen fielen um so gravierender aus, je jünger die Kinder zum Zeitpunkt des Unfalls gewesen waren. Es reagierten also gerade die Gehirne besonders empfindlich, deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen war. Daneben beeinflusste auch die Schwere der Verletzung den Verlauf. Prinzipiell können durch die Unfallfolgen alle Hirnleistungen beeinträchtigt sein. Es gibt Kinder, deren Sozialverhalten gestört ist, andere, die sich nicht konzentrieren können oder solche, deren Sprachfertigkeiten sich nicht weiterentwickeln. Das heißt aber nicht automatisch, dass die Mädchen und Jungen keine guten schulischen Leistungen erbringen können.

Nach Ansicht von Barbara Benz, leitende Neuropsychologin des Friedehorster Projektes, ist besonders problematisch, dass sich Entwicklungsstörungen nach SHT erst im Laufe mehrerer Jahre bemerkbar machen. Im englischen Sprachraum heißt dieses Phänomen "growing into the deficit". Ein anderes Merkmal erschwert die Diagnose der Langzeitschäden: Defizite erstrecken sich oft nur auf einzelne Leistungsbereiche. So kann ein Kind ein gestörtes Sprachverständnis haben, in anderen Gebieten aber ganz normal entwickelt sein. Wenn es dann Anweisungen nicht versteht und ihnen deshalb nicht nachkommt, denken Eltern und Lehrer, das Kind sei "schwierig". Sie bemerken ja sonst keine Auffälligkeiten. Neuropsychologen sprechen hierbei von einem "inhomogenen Leistungsprofil".


Rehabilitationsbedarf
Leider wird die eigentliche Ursache der Entwicklungsstörungen oft sehr spät und anchmal gar nicht erkannt. Kinder müssen sich bis dahin zahlreichen pädagogischen oder psychologischen Behandlungsversuchen unterziehen, die für alle Beteiligten frustrierend verlaufen. "Für Kinder mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma sind eine zeitnahe neurologische Rehabilitation und regelmäßige neuropsychologische Nachuntersuchungen ein Muss. Dadurch kann ihnen eine Odyssee mit Terminen bei zahlreichen Therapeuten erspart bleiben", so Barbara Benz. Spezielle neuropsychologische Testverfahren ermöglichen es, unfallbedingte neurologische Entwicklungsstörungen schon zu einem Zeitpunkt aufzudecken, an dem sie sich im Alltag noch nicht bemerkbar machen. Die Tests müssen deshalb vorsorglich auch dann durchgeführt werden, wenn die Entwicklung anscheinend normal verläuft, um rechtzeitig und gezielt Leistungsproblemen vorzubeugen. Dem Friedehorster Team ist besonders wichtig, dass den Kindern mithilfe individuell abgestimmter neuropsychologischer Therapien wirklich geholfen werden kann. Rein pädagogische Maßnahmen reichen bei neurologischen Schädigungen nicht aus.

Eine entscheidende Rolle spielt die Aufklärung von Eltern, Lehrern, Unfall- und Kinderärzten. Sie müssen die potenziellen Langzeitfolgen der Unfälle unbedingt kennen. "Viele Eltern sind geradezu erleichtert, wenn wir ihnen sagen, dass eine neurologische Störung als Folge des Unfalls besteht. Denn jetzt wissen sie endlich, was mit ihrem Kind los ist", beschreibt Barbara Benz ihre Erfahrungen. Erst die Kenntnis der Ursachen ermöglicht es, Frustrationen und Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind als Folge jahrelanger Fehleinschätzungen und Missverständisse zu überwinden.


Projektleitung:
Dr. med. Annegret Ritz, Ltd. Ärztin i.R., und
Dipl.-Psych. Barbara Benz, Ltd. Psychologin
Neurologisches Rehabilitationszentrum Friedehorst
Tel.: 0421 / 6381-512
E-Mail: benz.nrz@friedehorst.de

Juni 2002

Weitere Informationen:
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen