September 2019

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Lebensqualität, die ins Ohr geht

Ausgeklügelte Algorithmen erleichtern den Alltag mit Cochlea-Implantaten. Sie ermöglichen stark schwerhörigen und sogar tauben Menschen, räumlich zu hören. Das macht Gespräche in großen Menschenmengen einfacher und hilft auch im Straßenverkehr.

Zwei Jungen betrachten Smartphone. Ein Junge trägt ein Cochlea-Implantat.

Dank ausgeklügelter Algorithmen können Geräusche – wie von der Natur vorgesehen – mit minimaler Zeitverzögerung in die Cochlea-Implantate kodiert werden. Bei der Lokalisierung eines akustischen Signals macht das den entscheidenden Unterschied.

DLR-PT/BMBF

Schätzungen zufolge werden in Deutschland jedes Jahr etwa 5.000 Cochlea-Implantate (CI) eingesetzt. Derartige Implantate sind nicht auf die Umwandlung von Schall durch das Innenohr angewiesen. Sie wandeln von Mikrofonen aufgefangene Geräusche in elektrische Impulse um, mit denen sie den Hörnerv direkt stimulieren. Einem interdisziplinären Forschungsteam der Technischen Universität München ist es gelungen, die CI so weiterzuentwickeln, dass sie räumliches Hören verbessern können. Gefördert wurde es dabei vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Schallsignale räumlich wahrnehmen

Räumliches Hören oder auch Richtungshören befähigt uns, die Quelle eines Tonsignals zu orten. Denn je nach Ursprung erreichen Geräusche unser rechtes und linkes Ohr leicht zeitversetzt und in minimal unterschiedlicher Intensität. „Wir konnten zeigen, dass Menschen mit Cochlea-Implantaten diese minimalen Unterschiede in einer lauten Umgebung kaum nutzen können. Um dieses Problem zu beheben, haben wir einen neuen Algorithmus entwickelt“, erklärt Bernhard Seeber, Professor für Audio-Signalverarbeitung an der Technischen Universität München (TUM). Der neuartige Algorithmus verarbeitet das akustische Signal so, dass – wie beim Hören mit zwei normalen Ohren – eine minimale zeitliche Verzögerung in die Signale der Implantate an beiden Ohren kodiert wird. Diese kann vom Gehirn verarbeitet werden und verbessert das Richtungshören in halligen Räumen und im Störschall.

Algorithmen

sind programmierte Anweisungen, mit deren Hilfe Computer Aufgaben lösen. Navigationsgeräte berechnen mit Algorithmen beispielswiese den kürzesten Weg von A nach B. In der Diagnostik helfen Algorithmen, Röntgen- oder MRT-Bilder zu analysieren und bösartige Veränderungen aufzuspüren.

Bei seinen Untersuchungen arbeitet Seeber eng mit dem Team von Professor Werner Hemmert zusammen, seinem Kollegen an der ebenfalls an der TUM angesiedelten Munich School of BioEngineering. Mithilfe von Algorithmen wollen die Teams um die beiden Wissenschaftler die Weiterleitung der Signale der noch im Innenohr verbliebenen Nervenfasern durch die Implantate verbessern. Dafür müssen sie wissen, wie ein Ton normalerweise in den ersten neuronalen Schaltstellen des Gehörs weiterverarbeitet wird. „Ausgeklügelte Algorithmen helfen uns insbesondere bei der Analyse, welche Information in CIs derzeit noch unzureichend kodiert wird und wie wir das verbessern können“, erläutert Hemmert.

Bernstein Netzwerk

Das Bernstein Netzwerk ist nach dem deutschen Physiologen und Biophysiker Julius Bernstein (1839–1917) benannt, dessen „Membrantheorie“ (1902) eine erste biophysikalische Erklärung dafür lieferte, wie Nervenzellen Informationen durch elektrische Ströme weiterleiten und verarbeiten.

Das Netzwerk geht auf eine Förderinitiative des BMBF zurück und wurde 2004 mit dem Ziel gegründet, Kapazitäten im Bereich der Computational Neuroscience weiterzuentwickeln und den Transfer von theoretischen Erkenntnissen hin zu klinischen und technischen Anwendungen voranzubringen. Die Computational Neuroscience verbindet neurowissenschaftliche Experimente mit theoretischen Modellen und Computersimulationen.

Algorithmen orientieren sich am Muster der Natur

Um die zugrundeliegenden biophysikalischen Mechanismen möglichst genau zu verstehen, haben die Forschenden Modelle entwickelt, die den biologischen Neuronen in unserem Gehirn sehr ähnlich sind. Beispielsweise simulieren sie die natürliche Reizentstehung durch die Ionenkanäle der Zellmembranen. „Wir weiten unsere Modellierung zudem auf die nächsthöheren neuronalen Ebenen aus“, erläutert Hemmert. „So haben wir beispielsweise ein Modell entwickelt, wie im Stammhirn die Zeitunterschiede zwischen linkem und rechtem Ohr ausgewertet werden.“ Ein solcher neuronaler Schaltkreis spielt eine Schlüsselrolle bei der Lokalisation von Schallquellen – vor allem in Räumen, in denen sich viele Menschen aufhalten. Auch im Verkehr macht genau das für stark hörgeschädigte Menschen den entscheidenden Unterschied: Sie können sich mithilfe dieser Implantate deutlich besser orientieren und Gefahrenquellen wie zum Beispiel ein herannahendes Auto lokalisieren.

Über ein Forschungsinterface können dem Patienten nahezu beliebige elektrische Pulsfolgen für die Erprobung neuer Stimulationsalgorithmen in Hörversuchen dargeboten werden.

Über ein Forschungsinterface können dem Patienten nahezu beliebige elektrische Pulsfolgen für die Erprobung neuer Stimulationsalgorithmen in Hörversuchen dargeboten werden.

Bernhard Seeber

Dafür haben die Forscherinnen und Forscher die Geometrie ihrer Modelle immer weiter verfeinert. „Inzwischen benutzen wir mikrocomputertomografische Scans des menschlichen Innenohrs mit einer extrem hohen Auflösung von etwa einem hundertstel Millimeter. Damit können wir zum Beispiel die Stromausbreitung im Innenohr bei CI-Trägern sehr genau nachvollziehen“, erklärt Hemmert. Die Forschenden berechnen die Erregungsmuster der Hörnervenfasern im Innenohr, die wesentlich anders – und viel unregelmäßiger – aussehen als bislang gedacht. Das hilft ihnen, die Höreindrücke von Menschen mit Cochlea-Implantaten besser zu verstehen und neu zu interpretieren. Sie untersuchen auch, wie sich bei CI-Trägerinnen und -Trägern die Signalverarbeitung bei unterschiedlicher Signalintensität verändert. Darauf aufbauend arbeiten die Forscherteams an der Entwicklung von Kodierungsstrategien für Cochlea-Implantate, die die Sprachverständlichkeit weiter verbessern.

Ihre Modellrechnungen kombinieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit psychophysikalischen Untersuchungen. „Dabei generieren wir genau definierte elektrische Stimulationsmuster und fragen CI-Trägerinnen und -Träger nach ihren Eindrücken. Etwa ob sie ein Signal hören oder nicht, wie laut sie es hören und in welcher Qualität, oder ab welchen Änderungen sie Signale unterscheiden können“, sagt Hemmert.

Das Cochlea-Implantat

Eine Innenohrprothese, in der Fachwelt Cochlea-Implantat genannt, kommt bei Menschen zum Einsatz, deren Innenohr nicht mehr funktioniert. Das Prinzip: Ein Mikrofon fängt Geräusche auf, die ein Sprachwandler dann in elektrische Signale umsetzt. Diese Signale werden auf das Implantat übertragen, das hinter dem Ohr unter der Haut am Schädelknochen fixiert ist. Von hier laufen feine Elektroden ins Innenohr. Sie stimulieren dort direkt den Hörnerv.

Ganz neue Hörperspektiven

Für Menschen, denen ein herkömmliches Hörgerät nicht weiterhilft, ist das eine gute Nachricht. Bis zu zehn Prozent der insgesamt rund 15 Millionen hörgeschädigten Deutschen könnten von einer CI-Versorgung stark profitieren. Die jüngsten Patientinnen und Patienten sind oft nur wenige Monate alt, die ältesten über 90 Jahre. Unabhängig vom Lebensalter eröffnen sich allen Betroffenen neue Perspektiven durch CIs: Hochgradig hörgeschädigte und sogar völlig gehörlose Kinder könnten eine Regelschule besuchen, alte Menschen, die sich aufgrund ihrer Schwerhörigkeit immer weniger an Gesprächen beteiligen und in ihre eigene Welt zurückziehen, könnten wieder aktiv am Leben teilhaben.

Computational Neuroscience  – wie Computer helfen, das Denken zu verstehen

Mit dem Ansatz der Computational Neuroscience wird erforscht, wie das Nervensystem Informationen verarbeitet. Das reicht von den Sinneseindrücken beim Sehen und Hören bis hin zum Lernen, Erinnern und schließlich dem Treffen von Entscheidungen.

Dafür entwickeln Forschende auf der Basis experimentell gewonnener Daten mathematische Modelle, mit denen sie neuronale Funktionen am Computer simulieren. Die Vorhersagen der Modelle zum neuronalen Verhalten überprüfen sie wiederum experimentell. Dieses Wechselspiel optimiert die virtuellen Modelle und bringt die Forschenden dem Verständnis der Hirnfunktionen so Schritt für Schritt näher.

Das BMBF etablierte durch eine Reihe aufeinander abgestimmter und einander ergänzender Förderinitiativen das Nationale Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience (NNCN). Das Gesamtfördervolumen beträgt im Zeitraum von 2004 bis 2020 rund 190 Millionen Euro.

Ansprechpartner:
Prof. Dr.-Ing. Bernhard Seeber
Professur für Audio-Signalverarbeitung
Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik
Technische Universität München
Theresienstraße 90
80333 München
aip@ei.tum.de

Prof. Dr.-Ing. Werner Hemmert
Professur für Bioanaloge Informationsverarbeitung
Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik
Munich School of BioEngineering
Munich School of Robotics and Machine Intelligence
Technische Universität München
Boltzmannstraße 11
85748 Garching
werner.hemmert@tum.de