Ob ein neues Medikament die Leber schädigt, lässt sich nicht immer zuverlässig vorhersagen. Denn trotz umfangreicher Tests in Zellkulturen und Tierversuchen reagiert die menschliche Leber nicht selten anders als erwartet. Ein neues Testsystem im Miniaturformat soll nun helfen, giftige Effekte für die Leber ganz ohne Tierversuche und bevor ein Medikament an Patienten getestet wird vorherzusagen. (Newsletter 62 / April 2013)
Immer wieder müssen Medikamente wegen gefährlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden. Da fragt man sich zu Recht: Könnten diese Nebenwirkungen nicht bei den umfangreichen Untersuchungen vor der Zulassung erkannt werden? Die Antwortet lautet: Leider nicht immer. Denn gerade toxische, also giftige, Effekte von Arznei-mitteln lassen sich nur begrenzt vorhersagen. „Das gilt besonders für lebertoxische Reaktionen, weil die Ergebnisse aus Zellkulturen und Tierversuchen nur begrenzt auf den Menschen übertragen werden können“, sagt Dr. Martin Stelzle vom Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut der Universität Tübingen. „Deshalb werden etwa ein Viertel der Medikamente, die aus Toxizitätsgründen vom Markt genommenen werden, wegen Leberschäden gestoppt.“ Außerdem ist die Lebertoxizität – nach mangelnder Effizienz – der zweithäufigste Grund dafür, dass ein neuer Arzneistoff bereits in seiner Entwicklung scheitert. Es gibt also viele Gründe, warum dringend neue Testsysteme notwendig sind, um Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen. Gemeinsam mit zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben Dr. Stelzle und sein Team ein neues Zellkultursystem entwickelt, mit dem sich Leberschäden zukünftig deutlich zuverlässiger erkennen lassen. Der Name: HepaChip. Die Entwicklung der Leber im Miniaturformat auf einem Chip wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt.
Nahaufnahme des HepaChip. Auf dieser mit winzigen Elektroden ausgestatteten
Oberfläche werden die Zellen kultiviert.
Zellkulturmodell simuliert die menschliche Leber
Was zeichnet den neuen HepaChip aus? In den derzeit verwendeten Leberzellmodellen wachsen die Zellen meist in zweidimensionalen Kulturen, also beispielsweise in der Petrischale. „Hierbei verlieren die Leberzellen allerdings innerhalb kürzester Zeit die für eine Leberzelle typischen Funktionen, also zum Beispiel die Fähigkeit, zugeführte Arzneistoffe abzubauen“, weiß Dr. Peter Roehnert von der European ScreeningPort GmbH, Mitentwickler des Systems. Deshalb sind diese Modelle besonders für die Untersuchung von Langzeiteffekten nur eingeschränkt geeignet. Auch Tierversuche sind keine zuverlässige Lösung. Denn es gibt Wirkstoffe, die beim Menschen und beim Tier unterschiedlich abgebaut werden. So können beispielsweise giftige Abbauprodukte zwar bei Menschen, nicht aber bei Tieren entstehen. „Unser HepaChip sollte hierfür besser geeignet sein“, erklärt Julia Schütte, Universität Tübingen. „Denn wir verwenden menschliche Leberzellen, die in einer ganz speziellen Art und Weise kultiviert werden. So entsteht eine organtypische dreidimensionale Struktur, die langfristig vital ist und deshalb auch die Untersuchung von chronischen Toxizitäten erlaubt.“
Der HepaChip unter dem Mikroskop: Leberzellen sind grün, Endothelzellen rot gefärbt.Der Trick: Die Leberzellen, medizinisch Hepatozyten, werden gemeinsam mit Endothelzellen, also Zellen aus der Innenwand von Blutgefäßen, kultiviert. „Denn die Leber besteht aus verschiedenen Zelltypen, die ganz charakteristisch angeordnet sind. Wir empfinden mit unserem HepaChip sogenannte Lebersinusoide nach. Das sind winzige Blutgefäße in der Leber, in denen Stoffwechselprodukte transportiert werden“, erklärt Dr. Stelzle. Mit Hilfe eines elektrischen Felds zwingen die Wissenschaftler die Zellen dazu, sich wie im echten Organ anzuordnen. Insgesamt befinden sich etwa 3.000 bis 4.000 Zellen auf dem Chip, wobei mehrere Hundert jeweils eine dem Lebersinusoid ähnliche Struktur bilden. Bereits jetzt gelingt es den Forscherinnen und Forschern, die Zellen mindestens eine Woche lang am Leben zu halten. Erste Versuche mit Substanzen, von denen bekannt ist, dass sie die Leber schädigen, sind vielversprechend. „Mit dem HepaChip können wir die giftigen Wirkungen gut vorhersagen“, so Dr. Roehnert. Die Wissenschaftler erkennen zum Beispiel, ob sich das Aussehen der Zellen verändert, ob giftige Abbauprodukte entstehen und wie die Wirkstoffe von den Leberzellen umgesetzt werden. „So können wir zukünftig bereits früh in der Entwicklung eines neuen Arzneistoffes erkennen, ob er der Leber schadet. Und zwar noch bevor Tierversuche oder klinische Studien gestartet werden“, betont Schütte. Noch ist der HepaChip allerdings nicht bis zur Marktreife entwickelt. Prinzipiell kann das System auch auf andere Gewebe übertragen werden. Derzeit arbeiten die Forscher an einem Miniaturmodell für die Blut-Hirn-Schranke.
Ansprechpartner/-in:
Julia Schütte und Dr. Martin Stelzle
NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen
Markwiesenstr. 55
72770 Reutlingen
Tel.: 07121 51530-28/-75
Fax: 07121 51530-62
E-Mail: julia.schuette@nmi.de
Dr. Peter Roehnert
European ScreeningPort GmbH
Tel.: 040 56081-470
Fax: 040 56081-453
E-Mail: peter.roehnert@screeningport.com