Ein leichter, von außen gezielt zugefügter Stromfluss kann das Zusammenspiel verschiedener Hirnareale stimulieren. Funktionsverluste nach einem Schlaganfall können so besser kompensiert werden. Transkranielle Gleichstromstimulation nennt sich die Methode.
Sprachlos sein bedeutet hilflos sein. Das wird uns im täglichen Leben kaum bewusst, sprechen wir doch mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der wir auch atmen – bis uns etwas der Sprache beraubt. „Ich befand mich in einem Raum mit anderen Menschen. Sie sprachen zu mir, aber ich verstand kein Wort“, erinnert sich Karin Schmidt* an die Zeit im Krankenhaus, direkt nach dem Schlaganfall. „Ich wollte wissen, wo ich bin, aber mir fehlten die Worte. Was ich dann mühsam herausbrachte, verstand niemand.“
Verbindung zur Außenwelt gekappt
Etwa 270.000 Deutsche erleiden pro Jahr einen Schlaganfall. Gefäßverschlüsse oder Blutungen im Gehirn schneiden Nervenzellen von der Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen ab. Hirngewebe stirbt. Wenn das Sprachzentrum betroffen ist, sind Sprechvermögen und Sprachverständnis gestört. Auch die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, kann beeinträchtigt sein. Aphasie ist der medizinische Fachausdruck für diese Sprachstörung.
Daran leidet jedes dritte Schlaganfallopfer – in Deutschland etwa 90.000 Menschen pro Jahr. Nur langsam werden sie der Worte wieder mächtig. Jeder fünfte Betroffene hat mehr als ein Jahr nach dem Ereignis noch immer Probleme, fließend zu reden oder Sätze zu verstehen. „Die meisten Therapien sind bei chronischen Aphasie-Patientinnen und -Patienten bisher nur wenig erfolgreich“, weiß Prof. Agnes Flöel. Um die Sprachfähigkeit und damit die Lebensqualität von Aphasikern zu verbessern, erforschte sie mit ihrem Team an der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Charité Berlin einen neuen Therapieansatz – die transkranielle Gleichstromstimulation. Das Verfahren ist gut verträglich. Es bedarf keines operativen Eingriffs, denn es wirkt von außen durch den Schädel (lateinisch cranium) hindurch. Daher spricht man von „transkranieller“ Stimulation.
Hilfe zur Selbsthilfe für das Gehirn
Karin Schmidt gehört zu einer Gruppe von 26 chronischen Aphasikern, die an einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie am Zentrum für Schlaganfallforschung in der Charité teilnahmen. Alle Probanden erhielten in einem Zeitraum von zwei Wochen an acht Tagen eine intensive Sprachtherapie: Sie sahen auf einem Monitor Alltagsgegenstände und mussten sie benennen. An jedem Therapietag gab es zwei Sitzungen à 1,5 Stunden. Eine Gruppe der Probanden – darunter auch Karin Schmidt – wurde vor Beginn jeder Sitzung mit der Gleichstromstimulation behandelt, während eine Kontrollgruppe Scheinstimulationen erhielt.
Eine Elektrode wird dabei außen am Kopf, direkt über dem sog. motorischen Kortex, befestigt. Diese Hirnregion hat eine enge Verbindung zu den nach dem Schlaganfall verbliebenen aktiven Spracharealen. Eine zweite Elektrode wird an der Stirn fixiert. Dann fließt für 20 Minuten ein schwacher Strom zwischen den Elektroden. Die Probanden verspüren dabei nur ein leichtes Kribbeln.
Sofort nach der Beendigung der Therapie und ein halbes Jahr später untersuchte Flöel das Vermögen der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, alltägliche sprachliche Herausforderungen zu meistern. Die Ergebnisse sind vielversprechend. „Die elektrischen Hirnstimulationen verbessern die Fähigkeit, Gegenstände zu benennen und einzuordnen. Das hilft den Patientinnen und Patienten, Alltagssituationen besser zu bewältigen – in der Familie, aber auch beim Einkaufen oder im Austausch mit Ärztinnen und Ärzten“, so Flöel. „Unsere Studien zeigen erstmals, dass diese positiven Effekte auch noch ein halbes Jahr nach der Therapie wirken.“
Die transkranielle Gleichstromstimulation funktioniert wie eine Starthilfe für die Reorganisation des Sprachzentrums: „Intakte Hirnregionen übernehmen die Aufgaben zerstörter oder geschädigter Areale und kompensieren so die Funktionsverluste im Sprachzentrum. Der Stromfluss stimuliert diese Kompensation, ist also eine Hilfe zur Selbsthilfe für das Gehirn“, erläutert Flöel. „Das offenbaren uns auch moderne bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie.“ Mit ihr können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Gehirnaktivitäten genau beobachten.
Sprachlosigkeit – auch eine soziale Belastung
Noch heute verstecken sich die Worte manchmal in Karin Schmidts Gedächtnis – aber sie findet sie immer schneller. „Nach der Rehabilitation konnte ich mich nur mühsam verständigen, kämpfte mit jedem Satz, verwechselte sinnverwandte Wörter, sagte zum Beispiel ‚Messer‘, wenn ich ‚Löffel‘ meinte, oder würfelte Buchstaben durcheinander.“ Was im Vergleich zu den offensichtlichen körperlichen Folgen eines Schlaganfalls auf den ersten Blick weniger dramatisch klingen mag, stellt viele Betroffene und Angehörige vor eine Extremsituation. Denn verständliche Aussprache und ungehinderte Sprechfähigkeit sind eine Voraussetzung für die Teilhabe am Leben.
Sprache ist nicht nur praktisch, sie bringt auch unsere Persönlichkeit zum Ausdruck – unseren Humor, unsere Gefühle. Aphasiker wirken daher oft ihrer Persönlichkeit beraubt. „Für diese Menschen brauchen wir dringend neue und bessere Aphasie-Therapien“, betont Flöel, die jetzt in der Universitätsmedizin Greifswald die Klinik und Poliklinik für Neurologie leitet.
Weitere Studien vor der Übernahme in die Regelversorgung
Die vielversprechende transkranielle Gleichstromstimulation wird bisher nur in klinischen Studien eingesetzt. Aktuell ist eine neue Studie zur Hirnstimulation mit mehreren Hundert Patientinnen und Patienten in Planung. Wenn auch deren Ergebnisse in den nächsten Jahren positiv ausfallen, kann die Gleichstromstimulation in die Regelversorgung übernommen werden. Flöels Team verbesserte durch die Stimulation übrigens auch die Hirnfunktionen älterer Menschen mit beginnenden kognitiven Einschränkungen, zum Beispiel Gedächtnisstörungen. Auch diese Ergebnisse werden aktuell durch größere Studien überprüft.
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. med. Agnes Flöel
Universitätsmedizin Greifswald
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Ferdinand-Sauerbruch-Straße
17489 Greifswald
03834 86-6815
agnes.floeel@uni-greifswald.de