Die Augen sind wohl das wichtigste Sinnesorgan des Menschen. Sind sie gesund, so öffnen sie uns täglich die Tür zur Welt. Umso schlimmer ist es, wenn das Sehvermögen nachlässt oder man gar das Augenlicht ganz verliert. Schätzungsweise 285 Millionen Menschen weltweit können nur eingeschränkt sehen; 39 Millionen sind blind. Eine klinische Studie hat nun belegt, dass eine neuartige Behandlung die verlorene Sehleistung von Menschen mit Schäden am Sehnerv verbessern kann, beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit Grünem Star. (Newsletter 70 / Oktober 2014)
Dabei bringen kleine Stromstöße das Gehirn wieder dazu, die noch vorhandenen optischen Reize korrekt zu verarbeiten.
„Sind Sie der Wissenschaftler, der Blinde wieder sehen lässt?“ Professor Dr. Bernhard Sabel schmunzelt, wenn ihm diese Frage gestellt wird. Er antwortet dann meist: „Es ist richtig, dass wir mit unserer Methode das Sehvermögen von Menschen, die wegen einer Schädigung des Sehnervs teilerblindet sind, deutlich verbessern können. Wir sind aber leider noch weit davon entfernt, Blinde wieder sehen zu lassen!“ Die überwiegende Mehrzahl der Menschen mit Sehbehinderung ist nicht komplett blind, sondern teilerbindet. Teilerblindete Menschen können nur noch in einem sehr eingeschränkten Bereich ihres Gesichtsfeldes sehen. Das heißt, sie sehen beispielsweise nur noch eine Hälfte ihres Gesichtsfeldes oder nur in einem kleinen inselförmigen Ausschnitt des Gesichtsfeldes. Nicht nur Schäden am Sehnerv können eine Teilerblindung verursachen. Auch nach einem Schlaganfall können Betroffene teilerblinden, wenn das Sehverarbeitungszentrum im Gehirn dadurch beeinträchtigt ist.
Das Auge ist das wohl wichtigste Sinnesorgan des Menschen. Fachleute sprechen deshalb vom „Augentier Mensch“.Ob und wie wir sehen, ist das Resultat einer komplexen Verarbeitung von Informationen auf ganz unterschiedlichen Ebenen des Nervensystems. In unserem Auge sind die Lichtsinneszellen auf der Netzhaut für die Wahrnehmung des Lichts zuständig. Das eintreffende Licht wird zunächst in chemische und dann in elektrische Signale umgewandelt. Diese kleinen elektrischen Impulse werden durch den Sehnerv in das visuelle Zentrum des Gehirns, den visuellen Cortex, geschickt. Er sitzt im Hinterkopf. Dort angekommen, werden die elektrischen Signale analysiert und interpretiert. An dieser „Interpretation“ ist ein großes neuronales Netzwerk beteiligt, das sich über das gesamte Gehirn erstreckt. „Man kann sich dieses neuronale Netzwerk ein bisschen wie das Internet vorstellen“, beschreibt Sabel. „Seine Aufgabe besteht darin, Informationen weiterzuleiten, zu verrechnen und schließlich zu interpretieren. So entsteht aus der zeitlichen Taktung von elektrischen Impulsen der Nervenzellen ein optisches Wahrnehmungserlebnis.“ Ist beispielsweise der Sehnerv geschädigt – der häufigste Grund hierfür ist der Grüne Star –, funktioniert dieses Wahrnehmungserlebnis nicht mehr.
Verbindungsbahnen im Gehirn gestört
Für die neuartige Wechselstrombehandlung werden je zwei Elektroden an der Stirn und neben dem Auge platziert. Gleichzeitig trägt der Patient, der an Grünem Star (Glaukom) leidet, eine Kappe mit EEG-Elektroden. Mit diesen Elektroden können während der Behandlung die Hirnwellen abgeleitet werden. Ein englischsprachiges Video mit deutschem Untertitel zur Wechselstrom-Behandlung finden Sie unter
www.youtube.com/watch?v=g8p3mWsLvAI.Doch ist allein diese Schädigung am Sehnerv die Ursache dafür, dass die Betroffenen nur eingeschränkt sehen können? Dieser Frage ist Sabel in einer Studie nachgegangen. Die Antwort lautet: Nein. Es gibt auch Gründe für die eingeschränkte Sehleistung, die weit tiefer im Gehirn verborgen liegen. Es kommt ebenso darauf an, wie die noch vorhandenen wenigen Informationen aus dem geschädigten Sehnerv im Gehirn interpretiert und verarbeitet werden. Um sehen zu können, müssen weit voneinander entfernte Hirnareale synchron miteinander zusammenarbeiten. Und zwar auch Hirnareale, die weit weg liegen von der eigentlichen primären Ursache der Sehbehinderung, der Schädigung am Sehnerv. „Die Hirnareale erfüllen quasi die Funktion eines Verstärkers. Wie der Verstärker einer Stereoanlage sind sie dafür verantwortlich, ein geringes Signal wenn nötig zu amplifizieren, also so zu verstärken, dass es wahrgenommen werden kann“, beschreibt Sabel.
Bei normal sehenden Personen gibt es starke funktionelle Verbindungsbahnen zwischen dem hinteren Bereich des Gehirns, wo der visuelle Cortex lokalisiert ist, und dem frontalen Cortex in der Stirn, einem Hirnbereich, in dem Aufmerksamkeit und höhere kognitive Funktionen angesiedelt sind. Bei Teilerblindeten sind diese Verbindungsbahnen gestört oder ganz verloren gegangen – und zwar als Folge des Signalverlustes im Sehsystem verursacht durch die Schädigung am Sehnerv. Die Hirnareale arbeiten nicht mehr so gut aufeinander abgestimmt zusammen. „Wir sprechen davon, dass die Synchronisation des neuronalen Netzwerks gestört ist“, erklärt Sabel. Dabei gilt: Je stärker die Synchronisation beeinträchtigt ist, umso stärker ist auch die Sehleistung eingeschränkt. „Wie gut ein Mensch mit Sehbehinderung tatsächlich sehen kann, hängt also nicht nur davon ab, wie viele Informationen das Gehirn noch aus dem Auge aufnimmt. Vielmehr kommt es auch darauf an, wie effizient diese Informationen anschließend im Gehirn verarbeitet werden.“ Untersucht haben Sabel und seine Kolleginnen und Kollegen die Funktion des neuronalen Netzwerks bei teilerblindeten Patientinnen und Patienten im Vergleich zu Gesunden mit Hilfe der Elektroenzephalographie, kurz EEG. Mit dieser Methode kann die elektrische Aktivität des Gehirns an der Kopfoberfläche abgeleitet und analysiert werden.
Schematische Darstellung der neuronalen Netzwerkverbindungen
im Gehirn. Das Netzwerk im Gehirn von gesunden Probanden
(links) ist charakterisiert durch lange Verbindungen zwischen
dem Hinterkopf, also dem Bereich des Sehens (unterer Bereich
der Kreise), und frontalen Regionen, die für kognitive Fähigkeiten
zuständig sind (oberer Bereich der Kreise). Bei Personen, deren
Sehkraft aufgrund einer Glaukom-Erkrankung oder einer Schädigung
des Sehnervs eingeschränkt ist (Mitte), sind diese langen Verbindungen
verloren gegangen. Ihr neuronales Netzwerk besteht
vorwiegend aus kurzen Verbindungen in den zentralen Regionen
des Gehirns. Eine Behandlung mit Wechselstrom (rechts) verbessert
die visuellen Fähigkeiten von Teilerblindeten und unterstützt
die Wiederherstellung einiger dieser langen Verbindungen.
Wechselstrom-Therapie verbessert Sehleistung
Diese neuen Erkenntnisse über die Synchronisation des neuronalen Netzwerks lassen sich sogar therapeutisch nutzen. Sabel und seinem Team ist es gelungen, das neuronale Netzwerk von teilerblindeten Menschen durch eine neuartige, nicht-invasive Behandlung wiederherzustellen und so die verlorene Sehleistung zu verbessern. In einer klinischen Studie wurden 15 Patientinnen und Patienten, deren Sehleistung durch Schädigung des Sehnervs eingeschränkt war, für zehn Tage mit einer Wechselstrom-Therapie – oder einer stromlosen Placebo-Therapie – behandelt. „Wechselstrom-Therapie – das klingt schlimmer als es ist“, versichert Sabel. Für die Behandlung wurden Elektroden oberhalb und neben den Augen aufgeklebt und den Patientinnen und Patienten darüber täglich für 40 Minuten sehr leichte Stromimpulse verabreicht. „Die Stromimpulse sind so schwach, dass die Patienten den Strom kaum oder gar nicht auf der Haut spüren. Das einzige, was sie während der Behandlung bei geschlossenen Augen bemerken, sind kurze Lichtblitze“, beschreibt Sabel. Insgesamt seien die Stromimpulse, die für die Behandlung nötig sind, deutlich schwächer als bei einem Herzschrittmacher.
Darstellung der Gesichtsfelder eines teilerblindeten Patienten.
Weiße Areale stellen volles Sehvermögen dar. Graue Areale sind
Bereiche mit eingeschränkter Funktion, schwarze Areale sind
blinde Bereiche. Nach der zehntätigen Wechselstromtherapie
(unten) hat sich die Sehleistung des Patienten verbessert – es gibt
deutlich mehr weiße Bereiche mit vollem Sehvermögen als vorher
(oben). Die roten Kreise kennzeichnen die Regionen, die sich
verbessert haben.
„Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist erstaunlich. Das sollten wir nutzen.“
Nach nur zehn Tagen Wechselstrom-Therapie verbesserte sich tatsächlich bei zwei Dritteln der Studienteilnehmenden die Sehleistung deutlich. Der Grund: Das neuronale Netzwerk im Gehirn der Sehbehinderten arbeitet wieder synchron. Sogar weit entfernte Hirnareale wurden wieder Teil des Netzwerks: Der visuelle Cortex im Hinterhaupt war durch die Stromtherapie wieder mit dem Frontalcortex im Stirnbereich verbunden. „Die Verbindungsbahnen ähneln nach der Wechselstrom-Therapie wieder viel mehr denen von Versuchspersonen ohne Sehbehinderung. Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist erstaunlich. Das sollten wir nutzen“, so Sabel. Die Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im ER A-Netz NEURON gefördert (Bola et al., Neurology, 2014, 83: 542-551). „Je erfolgreicher das neuronale Netz wieder synchronisiert werden konnte, desto stärker verbesserte sich auch die Sehleistung der Patientinnen und Patienten. Und das, obwohl die Ursache der Erblindung, also die Schädigung des Sehnervs selbst, nicht reversibel ist. Bislang galt eine solche Verbesserung der Sehleistung als unmöglich.“ Was genau die elektrischen Impulse auf physiologischer und zellulärer Ebene im Gehirn der Patientinnen und Patienten bewirken, ist bislang unbekannt. „Wir konnten zeigen, dass die Frequenz der Stromimpulse nicht nur direkte Resonanzen im Gehirn erzeugt, sondern dass auch nach Beendigung der Stimulation das Gehirn in diesem Rhythmus weiterschwingt. Es ist dieser ‚Nachhall-Effekt‘, der die Netzwerksynchronisation verbessert. Denn wenn viele Zellen gemeinsam Nervenimpulse feuern, werden sie auch wieder besser mit einander verbunden“, erklärt Sabel.
Die Wechselstrom-Therapie ist bereits in der klinischen Praxis angekommen. „Wir bieten das neue Verfahren hier in Magdeburg jetzt für Patientinnen und Patienten an. Teilerblindete Menschen, die Interesse an der Behandlung haben, können sich also bei uns melden“, sagt Sabel. Für die neue Behandlungsmethode hat er eine Firma aus der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ausgegründet, die SAVIR GmbH.
Derzeit untersucht er gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus ganz Europa, ob das neue Verfahren auch bei Schlaganfall-bedingten Sehbehinderungen wirksam ist.