Multiple Sklerose: Medikamentöse Behandlung wird sicherer - Ein neuer Biomarker kann vor riskanten Nebenwirkungen warnen

Über 2.500 Menschen erkranken allein in Deutschland jedes Jahr an Multipler Sklerose. Helga M. ist eine von ihnen. Ihre Hoffnung auf Linderung der typischen Krankheitsschübe ruht auf einem Medikament: Natalizumab. Doch sie und ihr Arzt zögern noch, ob es die richtige Wahl ist. Sie liefe nämlich Gefahr, nach Einnahme des Medikaments an einer Gehirnentzündung zu erkranken. (Newsletter 66 / Februar 2014)

Deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun gemeinsam mit internationalen Partnern einen im Blut vorkommenden Faktor gefunden, der Helga M. bei ihrer Entscheidung helfen könnte, das Risiko einer Gehirnentzündung individuell besser abzuschätzen.

Bildquelle: Thinkstock Über 2.500 Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr an Multipler Sklerose. Die Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine neurologische Erkrankung, deren Ursachen bislang nicht bekannt sind. Man weiß nur was passiert: Das Abwehrsystem von MS­-Patienten greift bestimmte Nervenfasern an und zerstört ihre Schutzschicht. Die Nerven können ihre Signale nicht mehr oder nur verzögert weiter leiten und es kann zu Lähmungen oder Taubheitsgefühlen an den Gliedmaßen kommen. Oft ist dabei nicht vorhersehbar, wie lange Betroffene ohne Einschränkungen sein werden und ein selbständiges Leben führen können. Die Krankheit verläuft nämlich in Schüben. Ein kleiner Bruchteil der MS-­Patienten bleibt nach dem ersten Schub über Jahrzehnte hinweg ohne nennenswerte Behinderung. In den meisten Fällen aber leiden die Betroffenen an immer stärker werdenden Sehstörungen, Lähmungen oder schneller Ermüdung – Symptome, die mit jedem Schub schlimmer werden.

Medikamente mit gefährlichen Nebenwirkungen

Dank erfolgreicher Forschung gibt es heute bereits Medikamente, die den meisten Betroffenen helfen und ihre Beschwerden lindern. Um die Krankheit aber aufhalten zu können, müssen die Arzneimittel tief in das Immunsystem der Patientinnen und Patienten eingreifen; Mediziner sprechen auch von Immunsuppressiva. Das sind Substanzen, die das körpereigene Abwehrsystem schwächen. Das führt unweigerlich dazu, dass schwere Nebenwirkungen auftreten können. Natalizumab ist so ein Medikament. Es wird bei besonders schweren Fällen der MS eingesetzt, weil es die Krankheitsschübe im Zaum hält. Aber es birgt auch eine Gefahr: Patienten, die das Medikament nehmen, haben ein erhöhtes Risiko, an einer bestimmten Form einer viralen Gehirnentzündung, kurz PML, zu erkranken. Über die Hälfte aller Menschen trägt nachweisbare Antikörper gegen den Erreger dieser Gehirnentzündung, das JC-Virus, in sich. Das heißt, dass sie mit dem Erreger schon einmal in Kontakt gekommen sind. Zu einem Ausbruch kommt es aber nur dann, wenn das Immunsystem geschwächt ist. Und das ist bei einigen der mit Natalizumab behandelten MS-­Patienten der Fall. Es ist bislang schwierig, das Risiko für diese fatalen Nebenwirkungen abzuschätzen. Was fehlt, ist eine individuelle Einschätzung der Gefahr: Wann ist eine Patientin oder ein Patient gefährdet, an einer Gehirnentzündung zu erkranken? Wann und vor allem wie lange sollte Natalizumab besser nicht verabreicht werden? Bislang helfen hier grobe Wahrscheinlichkeitsberechnungen, welche die medikamentöse Vorbehandlung mit Immunsuppressiva und den Nachweis von Antikörpern gegen das JC-Virus im Blut berücksichtigen. Doch nur einer von hundert Patienten aus dieser so ermittelten Risikogruppe würde bei einer Behandlung mit Natalizumab auch wirklich an der Gehirnentzündung erkranken. Bei den anderen 99 würde das Medikament zu Unrecht abgesetzt. Helga M. fragt sich, ob sie auch zu den 99 gehört und sie Natalizumab doch nehmen könnte.

Ein kleines Molekül kann vor Nebenwirkungen warnen

Bildquelle: Thinkstock Um herauszufinden, ob MS-Patienten eine erhöhte Gefahr haben, an einer Gehirnentzündung zu erkranken, benötigen die Wissenschaftler lediglich eine Blutprobe. Deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun gemeinsam mit internationalen Partnern ein Molekül gefunden, mit welchem sie das Risiko einer PML-­Erkrankung von mit Natalizumab behandelten MS­-Patienten besser einschätzen können. Es handelt sich um L­-Selektin, ein Molekül, das eine wichtige Rolle spielt, wenn Erreger auf unser Abwehrsystem treffen. Patienten, denen das Molekül fehlt und die Natalizumab einnehmen, haben eine erhöhte Gefahr, an einer Gehirnentzündung zu erkranken.
„Für den Nachweis von L­-Selektin brauchen wir lediglich etwas Blut. Wir können dann mit unserem Test besser einschätzen, ob eine Patientin oder ein Patient Gefahr läuft, die schwere Nebenwirkung von Natalizumab zu entwickeln“, sagt Professor Dr. Heinz Wiendl. Er ist Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie der Universität Münster und stellvertretender Vorstandssprecher des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose. Das Kompetenznetz ist eine Bündelung von universitären Zentren, die sich in Deutschland auf die Krankheit MS spezialisiert haben. Es wird seit 2009 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Arbeitsgruppe von Professor Wiendl konnte auf zehn europäische und amerikanische Studiengruppen zurückgreifen, um erste Tests durchzuführen. Dank dieser Zusammenarbeit hatten sie ausreichend Blutproben, um ihre Annahme zu testen, ob fehlendes oder geringes L­-Selektin auch mit einem erhöhten Risiko einhergeht.

Was steht als Nächstes an?

Die Forscherinnen und Forscher haben von über 300 MS-Patienten Blutproben untersucht. Das Ergebnis weist darauf hin, dass der Gehalt von L-­Selektin bei MS­-Erkrankten individuell bei der Therapieentscheidung helfen kann. Wird kein L-­Selektin nachgewiesen, ist die Gefahr einer Gehirnentzündung hoch. „Es ist ein erster Schritt“, sagt Wiendl, „der zweite Schritt ist jetzt, den neuen Biomarker in einer großflächigen Studie als Risikoparameter zu testen. Genau solche Studien werden derzeit durchgeführt und man kann hoffentlich schon 2014 damit rechnen, genügend Patienten eingeschlossen zu haben, um eine statistisch bessere Aussage treffen zu können.“
Helga M. würde sich über diese Entscheidungshilfe freuen. Bei ihr wurde L-­Selektin in hoher Konzentration nachgewiesen. Ihr Risiko, eine Gehirnentzündung zu bekommen, wäre dementsprechend gering.

 

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurden bzw. werden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscherinnen und Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zusammenzubringen, um die Patientenversorgung zu verbessern. Ziel des Kompetenznetzes Multiple Sklerose ist es, Ursachen und Verlaufsformen der MS zu erforschen sowie Diagnostik und Therapie zu verbessern. Mit seinem Startschuss im Jahr 2009 läuft das Kompetenznetz nun bis 2016 in der zweiten Förderrunde.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Heinz Wiendl
Westfälische Wilhelms­Universität Münster
Klinik für Allgemeine Neurologie
Albert­Schweitzer­Campus­1
48149 Münster
Tel.: 0251 834-6811
Fax: 0251 834-8199
E-­Mail: heinz.wiendl@ukmuenster.de