Magersucht ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung. Und sie hält einen traurigen Rekord: Sie ist unter den psychischen Erkrankungen diejenige mit der höchsten Todesrate. Weltweit wird daran geforscht, die Mechanismen dieser Erkrankung zu verstehen und neue, verbesserte Therapien zu entwickeln. Mit Erfolg! In der letzten Newsletter-Ausgabe hatten deutsche Wissenschaftler berichtet, dass eine Psychotherapie bei Magersucht tatsächlich langfristig hilft. In diesem Beitrag lesen Sie, dass magersüchtige Patientinnen und Patienten hierfür nicht über Wochen stationär in der Klinik behandelt werden müssen. (Newsletter 67 / April 2014)
Fast jedes 200. Mädchen leidet an Magersucht. Ein Blick auf die Waage kann für die Betroffenen eine Qual sein.Es gibt durchaus Alternativen, die von den Jugendlichen als weniger großer Einschnitt ins Leben empfunden werden.
Heute führt Prinzessin Victoria von Schweden ein normales Leben und zeigt sich in der Öffentlichkeit. Das war aber nicht immer so. In ihrer Jugend war Victoria magersüchtig – so wie fast jedes 200. Mädchen. Tendenz steigend. Denn zumindest in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen nimmt die Zahl der Betroffenen noch immer zu. Die seelischen und körperlichen Folgen der Erkrankung sind immens. Oft verlieren die Jugendlichen vollständig den Anschluss an ihr soziales Umfeld. Im Rückblick auf die Erkrankung berichten viele Betroffene, dass die Magersucht ihnen die ganze Jugendzeit genommen habe.
Konventionelle Behandlung mit hoher Rückfallquote
Die gute Nachricht: Die Krankheit ist grundsätzlich behandelbar, ja sogar vollständig heilbar. Psychotherapie ist hier das Mittel der Wahl. Magersüchtige Patientinnen und Patienten werden dabei über Wochen stationär in der Klinik behandelt. Im Fachjargon heißt das: vollstationäre Behandlung. Trotzdem wird eine Vielzahl der in erster Linie betroffenen Mädchen und jungen Frauen rückfällig. Deshalb sind meist mehrere Aufenthalte in der Klinik nötig. Dies zu ändern, hat sich ein Team aus Forscherinnen und Forschern um Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann aus Aachen zur Aufgabe gemacht. „Wir haben lange darüber nachgedacht, ob es eine Alternative zur vollstationären Behandlung geben könnte. Diese müsste natürlich mindestens ebenso wirksam sein, aber von den Jugendlichen als weniger großer Einschnitt ins Leben empfunden werden“, erklärt die Forscherin.
Eine Chronik der Erkrankung zu erstellen ist Teil der Therapie bei Magersucht.
Neue Therapie zeigt Erfolg
„So sehe ich mich.“ – Selbstporträt einer magersüchtigen Patientin.Eine Alternative zur vollstationären Behandlung ist eine Tagesklinik. „Ein Großteil der Behandlung erfolgt dabei tagsüber zwischen 8 und 17 Uhr wie gewohnt in der Klinik. Abends und an Wochenenden sind die Betroffenen aber zu Hause. Der Vorteil ist: Die zumeist langwierige und schwierige Trennung von der Familie wird so deutlich reduziert“, erklärt Herpertz-Dahlmann. Eine solche Therapie stellt für die Behandlung der Magersucht aber Neuland dar. Kann es also funktionieren? Diese Frage sollte die weltweit größte klinische, nicht pharmakologische Vergleichsstudie bei Magersucht beantworten. Insgesamt acht Jahre lang lief die Studie namens ANDI (Treatment of childhood and adolescent anorexia nervosa – day treatment vs. inpatient treatment) und umfasste 172 Patientinnen. Unterstützt wurde das Projekt mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Am Ende erhielten die Forscherinnen und Forscher eine klare Antwort: Die Gewichtszunahme ist bei der tagesklinischen und der vollstationären Behandlung identisch. „Der tagesklinische Ansatz ist also in Bezug auf unser Haupterfolgskriterium, dass die Mädchen an Gewicht zulegen, mindestens gleichwertig“, berichtet die Aachener Studienleiterin erfreut. Auch bei den allermeisten Mädchen, die an der Studie teilgenommen haben, kam die Behandlung sehr gut an: 94 Prozent aller Studienteilnehmerinnen kamen nach zwei Jahren zu den freiwilligen Nachuntersuchungen. „Ein enorm guter Wert“, findet Herpertz-Dahlmann. Überdies ist die neue Therapie auch noch rund 20 Prozent günstiger als die vollstationäre Behandlung.
Die Vision: Eine Behandlung zu Hause
Eine Patientin zeichnet, wie sie den eigenen Körper wahrnimmt.Nach diesen ermutigenden Erkenntnissen müsse nun noch ein wichtiger Schritt folgen, erläutert Professorin Herpertz-Dahlmann: „Bislang steht die neue Therapie nur in wenigen Kliniken zur Verfügung. Wir müssen jetzt erreichen, dass sie deutschlandweit in die Regelversorgung übernommen wird. Nur dann profitieren die Betroffenen hierzulande wirklich davon.“ Das Interesse in der Fachwelt und bei weiteren Kliniken ist momentan zum Glück sehr groß. Die Forscherinnen und Forscher denken indes schon weiter. „Wir wollen jetzt eine App entwickeln, mit der die Betroffenen ihr Essverhalten noch besser unterstützen können. Außerdem würden wir gerne eine neue Studie zum ‚Home Treatment‘ auflegen, also zu einer Behandlung, die hauptsächlich zu Hause läuft. So könnten wir die Patientinnen und Patienten nochmals deutlich stärker in ihrem privaten und sozialen Umfeld belassen“, sagt Herpertz-Dahlmann.
Die Ergebnisse der ANDI-Studie wurden mittlerweile in „The Lancet“ publiziert. Einen weiteren aktuellen Beitrag zum Thema Magersucht lesen Sie hier.
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Beate Herpertz-Dahlmann
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
Tel.: 0241 808-8737
Fax: 0241 808-2544
E-Mail: bherpertz-dahlmann@ukaachen.de