Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen. Wenn sie versagen, kann das zu schwerwiegenden neurologischen Erkrankungen führen. Heilung gibt es bislang nicht. Ein Forscherteam aus Berlin könnte dies mit neuen Wirkstofftests bald ändern.
Der Fall des kleinen Charlie Gard aus Großbritannien hat im vergangenen Jahr weltweit viele Menschen bewegt. Das Baby litt unter einer seltenen Erkrankung, die durch defekte Mitochondrien entsteht. Sie sind die Energielieferanten der Zelle. Wenn die Mitochondrien nicht mehr richtig funktionieren, werden vor allem Nerven- und Muskelzellen beeinträchtigt, weil diese besonders viel Energie benötigen. Für mitochondriale Erkrankungen gibt es bislang keine Heilung. Doch ein Berliner Forschungsteam hat jetzt mit einem neuen Testsystem einen vielversprechenden Wirkstoff gegen eine dieser Krankheiten identifiziert. Dabei wurden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt.
„Das Problem ist, dass es bisher keine guten Modellsysteme für die Wirkstofftestung gibt“, erklärt Dr. Alessandro Prigione vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. Mitochondrien haben eine eigene DNA, die nur von der Mutter vererbt wird. In diesem Erbgut können, ebenso wie in der DNA der Zelle, Mutationen auftreten. Die Folge sind häufig Erkrankungen des Nervensystems. Diese Defekte in der Mitochondrien-DNA lassen sich jedoch in Modellen für Medikamententests bisher nicht abbilden.
130 bereits zugelassene Medikamente getestet
Dem Forschungsteam um Prigione ist dies nun gelungen. Hierfür haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst Hautzellen von Erkrankten im Labor in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen umgewandelt. Anschließend haben sie aus diesen Zellen wiederum ein Vorläuferstadium der Nervenzellen erzeugt, das den erkrankten neuronalen Zellen der Patientinnen und Patienten stark ähnelt und sich somit für die Wirkstofftestung eignet. Mit Hilfe dieses Zellmodells hat die Arbeitsgruppe 130 bereits für andere Krankheiten zugelassene Medikamente getestet, von denen sie sich eine positive Wirkung auf die defekten Mitochondrien erhoffte. „Wenn es uns gelingt, einen Wirkstoff zu finden, der bereits für andere Indikationen zugelassen ist, kürzt das die Testphase deutlich ab und wir können den Patienten viel früher helfen“, sagt Prigione.
Aktuell konzentrieren sich die Forscherinnen und Forscher auf das Leigh Syndrom, eine Mitochondrien-Krankheit, die ebenfalls vor allem Kinder unter zwei Jahren betrifft. Die kleinen Patientinnen und Patienten leiden unter anderem an Bewegungsstörungen, epileptischen Anfällen und geistigen Behinderungen. Bislang gilt diese Krankheit als nicht heilbar. Nach den Medikamenten-Tests setzen Prigione und sein Team nun große Hoffnung auf den Wirkstoff Avanafil, der bisher zur Behandlung von Erektionsstörungen eingesetzt wird. „Avanafil verbessert die Kalzium-Regulation in den erkrankten Zellen“, erklärt Prigione. „Das wiederum kann die Funktionsfähigkeit der Mitochondrien wieder herstellen.“
Klinische Studien in der Vorbereitung
Das Forscherteam kooperiert mit der Berliner Charité, an der Kinder mit Leigh Syndrom behandelt werden. Dort haben die Eltern der Betroffenen von den erfolgreichen Tests erfahren und wünschen sich nun einen schnellen Einsatz des Medikaments. Doch die Forscherinnen und Forscher müssen noch mehr Sicherheit gewinnen, bevor Avanafil bei den kranken Kindern zum Einsatz kommen kann. „Wir arbeiten derzeit an der Vorbereitung klinischer Studien“, sagt Prigione. Perspektivisch wollen er und sein Team an ihrem Modell noch mehrere Tausend weitere zugelassene Wirkstoffe testen und neue Therapiewege auch für andere seltene mitochondriale Erkrankungen – wie die von Baby Gard – finden.
Am 28. Februar 2018 ist der Tag der Seltenen Erkrankungen. Seit 2008 vereinen sich immer am letzten Tag im Februar Menschen auf der ganzen Welt, um gemeinsam auf Anliegen und Probleme der „Waisen der Medizin“ aufmerksam zu machen. Unter der internationalen Bezeichnung „Rare Disease Day“ ist der Aktionstag zu einer weltweiten Bewegung geworden.
Ansprechpartner:
Dr. Alessandro Prigione
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
Robert-Rössle-Str. 10
13122 Berlin
alessandro.prigione@mdc-berlin.de