März 2023

| Newsletter 110

Neuer Wirkstoff soll Therapie von Alkoholsucht deutlich verbessern

Rückfälle zu verhindern ist ein Ziel der Therapie von Alkoholsucht. Dabei können auch Medikamente helfen. Doch bisher schlagen diese nur bei wenigen Betroffenen an. Ein Forschungsteam will das ändern – und hat schon neue Wirkstoffkandidaten im Blick.

Ein Mann sitzt an einem Tisch und schiebt ein mit einer braunen Flüssigkeit gefülltes Glas von sich weg

Mit dem Trinken endgültig aufzuhören, ist für viele Suchtkranke ein langer Weg. Ein Forschungsteam hat einen neuen Wirkstoff entdeckt, der die Rückfallquote deutlich senken könnte.

Pormezz/Adobe Stock 

Alkoholsucht ist ein weitverbreitetes Problem. In Europa sind schätzungsweise 23 Millionen Menschen alkoholabhängig. Die Folgen für die Lebensqualität und Gesundheit der Betroffenen sind verheerend. Es leidet nicht nur die Leber; wissenschaftliche Studien zeigen, dass viele Krankheiten bei Alkoholsucht gehäuft auftreten. Dazu zählen unter anderem Diabetes und verschiedene Krebserkrankungen. Allein in Deutschland sterben jeden Tag mehr als 200 Menschen an den Folgen von übermäßigem Alkoholkonsum.

Die erste Hürde auf dem Weg zur erfolgreichen Therapie einer Alkoholsucht sind häufig die Patientinnen und Patienten selbst. Sie müssen zunächst zur Einsicht gelangen, dass sie Hilfe brauchen, und anschließend ihre Scham überwinden, um diese auch in Anspruch zu nehmen. Doch wenn der erste Schritt getan ist, gibt es noch zahlreiche weitere Herausforderungen. „Spezielle Therapieeinrichtungen sind häufig überfüllt. Wir gehen von einer riesigen Behandlungslücke aus. Nur rund 20 Prozent der Betroffenen werden erreicht“, sagt Professor Dr. Rainer Spanagel vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Suchtforscher und sein Team suchen daher nach einem Wirkstoff, mit dem Alkoholabhängigkeit auch außerhalb einer Spezialklinik, bei Bedarf noch begleitet durch eine ambulante Psychotherapie, erfolgreich und vor allem nachhaltig behandelt werden kann. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt das Projekt im Rahmen des Forschungs- und Förderkonzeptes „e:Med: Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“ mit rund 1,5 Millionen Euro.

Rückfall-Modell für individuelle Prognosen

Das Hauptziel der Therapie ist es, Rückfälle zu vermeiden. Auf dem deutschen Markt stehen hierfür bereits drei Medikamente zur Verfügung. „Diese sind jedoch oft nur begrenzt wirksam und unterscheiden sich je nach Patient stark in ihrer Wirkung“, erklärt Spanagel. So würden die bisherigen Wirkstoffe lediglich bei ein bis zwei von insgesamt zehn Betroffenen anschlagen. „Es ist daher dringend notwendig, möglichst schnell neue und bessere Medikamente zur Behandlung von Alkoholabhängigen zu finden“, betont Spanagel.

Ein Grund für die geringe Wirksamkeit der bisherigen Medikamente ist die große Heterogenität der Patientinnen und Patienten. Nicht nur die genetische Ausstattung jedes Betroffenen sei unterschiedlich, sondern auch die individuellen Lebensumstände, die die Genaktivität beeinflussen könnten, so Spanagel. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von epigenetischen Faktoren, die entscheidend für den Erfolg einer Therapie sein können. Im Rahmen des Projekts entwickeln die Forschenden daher ein computergestütztes Rückfall-Modell. Auf Basis der Daten aus den aktuellen und aus früheren Studien soll dieses Tool künftig im klinischen Alltag die individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit jedes einzelnen Alkoholabhängigen bestimmen und vorhersagen können, ob eine medikamentöse Therapie bei ihr oder ihm anschlägt.

Völlig neuer Ansatzpunkt

Als aussichtsreichen Wirkstoffkandidaten für die Behandlung von Alkoholsucht hatten Spanagel und sein Team zunächst Oxytocin im Blick, ein körpereigenes Hormon, das bislang vor allem als wehenförderndes Medikament in der Geburtsmedizin zum Einsatz kommt. Das sogenannte Bindungshormon wirkt direkt auf das Belohnungssystem im Gehirn und hilft unter anderem dabei, Stress und Angst abzubauen − Eigenschaften, die viele Menschen auch dem Alkohol zuschreiben. In präklinischen Studien konnte das Forschungsteam jedoch bei der Anwendung von Oxytocin-Sprays zunächst nur einen geringen Effekt beobachten. Erst ein neu hergestelltes Präparat mit einer Oxytocin-ähnlichen Substanz brachte den Durchbruch.

Allerdings führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den durchschlagenden Erfolg dieses neuen Präparats nicht in erster Linie auf dessen Bindung an den Oxytocin-Rezeptor zurück. „Wir haben vielmehr herausgefunden, dass die Substanz zusätzlich sehr stark auf einen anderen Rezeptor im Gehirn wirkt, der in Bezug auf Suchterkrankungen bisher noch nie in der Diskussion war“, sagt Spanagel. Dieser Rezeptor sei an der Regulation des Wasserhaushalts im Körper beteiligt. „Sie können als Suchtkranker zwei Liter Wasser trinken, um das Verlangen nach Alkohol kurzzeitig zu unterdrücken“, erklärt Spanagel. „Diesen Effekt könnten wir medikamentös hervorrufen, und das auch noch mit tagelanger Wirkung.“

Verkürzte Zulassung dank erprobter Wirkstoffe

Der neue Ansatzpunkt der Forschenden hat für Spanagel zwei Vorteile: „Wir gehen davon aus, dass wir eine wesentlich höhere Erfolgsquote erzielen werden, da dieser Rezeptor physiologische Prozesse im Körper steuert. Hier ist die individuelle Vielfalt längst nicht so groß wie bei neurobiologischen Prozessen“, so der Wissenschaftler. Zudem gibt es bereits auf dem Markt eine Reihe von lang erprobten Medikamenten, die auf genau diesen Rezeptor wirken. Derzeit ist das Team dabei, diese Substanzen im computergestützten Rückfall-Modell auf den Prüfstand zu stellen. Sobald sich der Erfolg hier wiederholen lässt, könnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die klinischen Studien anstoßen. „Mit einem bereits erprobten Wirkstoff nehmen wir bei der Zulassung eine Abkürzung, indem wir uns etwa die toxikologische Prüfung sparen können“, so Spanagel. „Das Medikament könnte schon in fünf Jahren bei der Behandlung von Alkoholkranken zum Einsatz kommen.“

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Rainer Spanagel
ZI – Institut für Psychopharmakologie
Hans-Meerwein-Straße 6
68159 Mannheim
Tel.: 0621 1703-6251
E-Mail: rainer.spanagel@zi-mannheim.de
www.zi-mannheim.de