Neuroblastome zählen zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Die Krankheit verläuft jedoch sehr unterschiedlich. Ein internationales Forschungsteam hat eine neue Methode zur individuellen Risikoabschätzung entwickelt.
Die Diagnose kommt oftmals völlig überraschend. Meist werden die Tumore bei einer Routineuntersuchung oder bei der Abklärung erster unspezifischer Symptome wie Bauchschmerzen und Fieber zufällig entdeckt. Dabei zählen Neuroblastome zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern. In Deutschland gibt es jedes Jahr etwa 160 bis 170 neue Fälle. Die bösartigen Tumore entstehen aus bestimmten entarteten Zellen des Nervensystems. Sie wachsen meist in der Nebenniere, seltener auch entlang der Wirbelsäule, im Brustkorb oder Bauchraum der kleinen Patientinnen und Patienten. Eine Besonderheit von Neuroblastomen ist ihr extrem unterschiedlicher Krankheitsverlauf: In einigen Fällen bildet sich der Tumor ohne Behandlung innerhalb weniger Monate zurück. Bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder schreitet die Krankheit jedoch aggressiv voran und ist mit gängigen Therapieformen kaum unter Kontrolle zu bringen.
Für die Behandlung ist es entscheidend, von Beginn an Hochrisikopatienten von solchen mit einer günstigen Prognose zu unterscheiden. Das ist bislang jedoch nur unzureichend möglich und kann dazu führen, dass einige Kinder teils mit belastenden Therapien behandelt werden, die eigentlich verzichtbar wären und schwere Nebenwirkungen wie Wachstumsstörungen oder Hörverlust verursachen können. Für Kinder mit Hochrisiko-Neuroblastomen ist es dagegen unerlässlich, möglichst schnell eine wirksame Kombinationstherapie zu finden, um das aggressive Fortschreiten der Krankheit zu stoppen.
„Deshalb müssen wir bereits zum Zeitpunkt der Diagnose genau wissen, zu welcher Risikogruppe ein Patient zählt, um die Therapieintensität besser an die individuellen Eigenschaften des Tumors anpassen zu können“, betont Dr. Frank Westermann vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Der Onkologe und Tumorgenetiker hat gemeinsam mit dem Systembiologen Professor Dr. Thomas Höfer im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes ein diagnostisches Verfahren entwickelt, das auf Basis der molekularen Evolution des Tumors eine genaue individuelle Risikoabschätzung möglich machen soll. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt das Projekt im Rahmen der europäischen Fördermaßnahme ERACoSysMed.
Neuroblastome entstehen schon in der Schwangerschaft
Die Forschenden haben das Tumorgenom von rund 150 Patientinnen und Patienten mit Neuroblastomen in unterschiedlichen Stadien entschlüsselt. Mithilfe eines mathematischen Modells konnten sie anschließend anhand bestimmter Erbgutveränderungen die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Tumors rekonstruieren. Dabei machten sie eine entscheidende Entdeckung: Neuroblastome haben ihren Ursprung bereits im ersten Drittel der Schwangerschaft. „Das ist genau der Zeitpunkt, an dem sich das embryonale Nervensystem, aus dem der Tumor entsteht, sehr stark entwickelt. Wir vermuten, dass die hohe Teilungsaktivität der Zellen dazu führt, dass Fehler auftreten“, erklärt Westermann. Eine weitere Erkenntnis der Forschungsgruppe: Zu diesem Zeitpunkt werden bereits die Weichen für einen günstigen oder aggressiven Verlauf der Krankheit gestellt.
In den Daten zur Entstehungsgeschichte können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun lesen wie in einem Tagebuch des Tumors: Sie können sehen, zu welchem Zeitpunkt die Krebszellen unterschiedliche Entwicklungswege eingeschlagen haben und welche genetischen Ereignisse dafür entscheidend waren. Zudem lässt sich anhand der Daten der Beginn des tatsächlichen Tumorwachstums genau bestimmen. Dieser ist, wie die Forschenden herausgefunden haben, von großer Bedeutung. Denn es zeigt sich, dass Tumore mit einem günstigen Verlauf früher zu wachsen beginnen. „Das Wachstum läuft bei diesen Neuroblastomen zwar zunächst schneller ab. Es finden dann aber keine entscheidenden genetischen Veränderungen mehr statt, die das Überleben der Krebszellen begünstigen“, erklärt Westermann. Hinzu kommt, dass diese Tumore wegen ihres frühen und schnellen Wachstums häufig auch früher diagnostiziert werden. Je länger sich demgegenüber ein Tumor entwickeln kann, um zu wachsen, umso hartnäckiger wird er. „Aggressive Neuroblastome durchlaufen eine komplexere Evolution. Die Tumorzellen haben genug Zeit, um Eigenschaften zu entwickeln, mit deren Hilfe sie Angriffen von außen entgehen können und unendlich teilungsaktiv bleiben“, erläutert Professor Dr. Thomas Höfer. Auf Basis dieser Daten zur Tumorevolution können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun eine präzise Vorhersage zum Krankheitsverlauf treffen.
Wachstumstreiber des Tumors entlarven und gezielt bekämpfen
Doch die Forschenden denken noch einen Schritt weiter: Mithilfe ihrer mathematischen Modelle wollen sie auch die genetischen Grundlagen der Resistenzbildung von Neuroblastomen entschlüsseln, um so mögliche Angriffspunkte für neue Kombinationstherapien bei aggressiven Tumoren zu finden. Eine zentrale Rolle spielt hierbei unter anderem das Krebsgen MYCN, das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits in einem früheren Projekt als Wachstumstreiber für den Tumor identifiziert haben. Dieser Mechanismus könnte über neue maßgeschneiderte Medikamente gezielt ausgeschaltet werden.
„Bei der Entwicklung solcher neuen Therapieansätze stehen wir noch weitgehend am Anfang“, sagt Westermann. Das diagnostische Verfahren zur Risikoabschätzung sei jedoch nach der Validierung direkt einsetzbar. „Im besten Fall würde es dann nur einige Tage dauern, bis die Prognose zum Krankheitsverlauf vorliegt und auf dieser Basis eine individuelle Therapieentscheidung für jeden Patienten getroffen werden kann.“
Ansprechpartner:
PD Dr. Frank Westermann
Deutsches Krebsforschungszentrum
Im Neuenheimer Feld 280
69120 Heidelberg
Tel.: 06221 42-3219 oder -3277
E-Mail: f.westermann@dkfz.de
Prof. Dr. Thomas Höfer
Deutsches Krebsforschungszentrum
Im Neuenheimer Feld 267
69120 Heidelberg
Tel.: 06621 5451-380 oder -487
E-Mail: t.hoefer@dkfz.de