08.02.2021

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„Niemand war vorbereitet“

Seit der Covid-19-Pandemie hat Deutschland mit der Mainzer Firma BioNTech einen neuen Biotech-Superstar. Die Ärztin Özlem Türeci und ihr Ehemann Ugur Sahin haben das Unternehmen gegründet. Zusammen zeigen sie, wie aus Grundlagenforschung Therapien werden.

Porträt von Dr. Özlem Türeci, eine der Gründerinnen der Mainzer Firma BioNTech.

Dr. Özlem Türeci, BioNTech

BioNTech SE

Vor ziemlich genau einem Jahr erreichten uns die ersten Meldungen über den Covid-19-Ausbruch in China. Wann war Ihnen klar, dass Ihr Unternehmen einen maßgeblichen Beitrag zur Bewältigung dieser Krise leisten kann?

Das war bereits im Januar 2020. Diese Entscheidung fiel, bevor die Epidemie von der WHO offiziell zu einer Pandemie erklärt wurde. Wir haben uns früh entschlossen, ein Großprojekt zu initiieren, um in sehr kurzer Zeit einen Impfstoff zu entwickeln. Dieses haben wir „Lightspeed“, also Lichtgeschwindigkeit, genannt. Wir sind Immunologen oder besser gesagt Immuningenieure. Die Entwicklung einer präventiven Vakzine gegen ein neues Virus ist eindeutig eine immunologische Aufgabe. Und weil wir zuvor lange Jahre Immuntherapien gegen Krebs entwickelt haben, verstehen wir das Immunsystem in seiner Tiefe. Das waren gute Voraussetzungen, um mit einem innovativen Ansatz zur Lösungsfindung beizutragen.

Wie würden Sie die mRNA-Impfung in einigen wenigen Sätzen beschreiben?

Bei einer Impfung geht es darum, dem Immunsystem Teile des Virus oder das gesamte Virus in nicht-infektiöser Form zu präsentieren. Das Immunsystem lernt so die viralen Strukturen kennen und entwickelt Abwehrmechanismen. Diese werden im Gedächtnis des Immunsystems gespeichert und sind bei tatsächlichem Infekt mit dem Virus schnell abrufbar und schützend. Die Strukturen sind Eiweißstoffe. Diese als konventionelle Impfstoffe zu produzieren, ist aufwändig. Wir nutzen für die Impfung Ribonukleinsäuren, die so genannte Boten-RNA oder mRNA. Das ist eine Form von genetischer Information, die natürlicherweise in unseren Körperzellen vorkommt. Der mRNA-Impfstoff liefert den Zellen des Geimpften die Instruktionen, quasi den Bauplan der Virusstrukturen, mit denen das Immunsystem für die Bekämpfung des Virus trainiert wird. Im Grunde setzen wir also eine dem Körper bekannte Informationstechnologie ein, die den Geimpften zu seinem eigenen Bioreaktor macht.

Welche Zellen des Menschen erfüllen diese Bioreaktorfunktion?

Es ist eine Mammutaufgabe.

Dr. Özlem Türeci

Das passiert vor allem in den sogenannten Antigen-präsentierenden Zellen des Immunsystems. Um es etwas plakativ zu erklären: Wir verpacken die mRNA in Fetttröpfchen, die mit der Lymphe in die Lymphknoten transportiert werden. Die Lymphknoten sind sozusagen die Ausbildungsstätten für das Immunsystem. Dort agieren die Antigen-präsentierenden Zellen als eine Art Coach. Sie nutzen die Information in der mRNA als Steckbrief des SARS-CoV-2-Virus und trainieren für die Abwehr zuständige Immunzellen darauf. Diese Immunzellen, B- und T-Zellen, sind wie Spezialeinheiten, die gezielt gegen dieses Virus vorgehen können.

Es kann ja vielen Menschen im Moment nicht schnell genug gehen. Warum lassen sich trotz dieser eleganten Technologie nicht von heute auf morgen große Produktionsstätten aufbauen? Was sind die Herausforderungen bei der Massenproduktion von Impfstoffen?

Hier gehen Wunsch und Wirklichkeit etwas auseinander. Es ist es eine Mammutaufgabe, ganze Bevölkerungen, verschiedene Nationen, die ganze Welt mit Impfstoff zu versorgen. Selbst für konventionelle Impfstofftechnologien, für die schon weltweit eingespielte Produktionsanlagen bereitstehen, ist das eine Riesenherausforderung. Neuartige Produktionsanlagen aufzubauen, in Betrieb zu nehmen und in ihnen zu produzieren, all das muss hohen Qualitätsstandard genügen – und das ist auch gut so. Niemand war vorbereitet auf die vielschichtigen Herausforderungen, vor die uns die Pandemie gestellt hat. Bislang gab es den Bedarf nicht, einen neuen Impfstoff milliardenfach in Monaten zu produzieren. Uns war klar, dass es Engpässe und Hürden an verschiedenen Stellen geben wird.

Gibt es Unterschiede zwischen der Massenproduktion von mRNA und konventionellen Impfstoffen?

Wir können den Impfstoff innerhalb Wochen nachbessern.

Dr. Özlem Türeci

mRNA kann in einem kürzeren Zyklus produziert und viel schneller adaptiert werden, etwa bei Mutationen, das ist ihr großer Vorteil. Deswegen haben wir auch auf mRNA gesetzt. Gleichzeitig sind die mRNA-Impfungen für Covid-19 hocheffektiv, wie wir in klinischen Studien gesehen haben – nicht nur in unseren eigenen. Es handelt sich um eine neuartige Impfstofftechnologie, für die es bisher keine weltweite marktversorgende Infrastruktur gab. Auf die Technologie abgestimmte spezialisierte Produktionskapazitäten müssen parallel zur Versorgung der Bevölkerung hochgefahren werden. Die Anlagen müssen gekauft und umgerüstet werden, es sind bauliche Anpassungen erforderlich, die nötigen Geräte müssen bestellt und installiert werden. Rohstoffe werden benötigt, die bisher nicht in diesen Mengen gefragt oder vorhanden waren. Das geht alles nicht von heute auf morgen und ist mit Planungsunsicherheit verbunden. Seit Beginn von Projekt Lightspeed war der Ausbau zur Massenproduktion für uns Teil des Gesamtplans. So haben wir im Sommer 2020 ein Werk in Marburg auserwählt, das im Februar mit der Produktion starten soll und bei vollem Betriebsumfang bis zu 750 Millionen Dosen im Jahr herstellen kann. Auch bauen wir unser Netzwerk an Auftragsfertigstellern stetig aus, die uns, wie beispielsweise Sanofi und Novartis, bei der Abfüllung unterstützen können.

Ein denkbares Szenario bei der Covid-19-Pandemie ist, dass sich das Virus verändert. Wir sehen das jetzt schon, und möglicherweise kommt ein Punkt, an dem dann auch der Impfstoff verändert werden muss. Wie einfach oder schwierig ist das bei einem mRNA-Impfstoff?

Lassen Sie mich das am Beispiel der individualisierten therapeutischen Krebsimpfstoffe verdeutlichen, die bis zur Pandemie unser wichtigstes Betätigungsfeld waren. Vor über sieben Jahren haben wir als Pioniere für diese Art von Therapie mit klinischen Studien begonnen und viele Patientinnen und Patienten im Rahmen der Studie behandelt. Wie funktioniert das? Jeder Krebs ist einzigartig. Die Ansammlung an Mutationen, die für das unkontrollierte Wachstum von Krebszellen verantwortlich ist, ist für jeden Patienten individuell. Eigentlich bräuchte jeder Krebspatient seine individualisierte, maßgeschneiderte Therapie. Eine solche stellen wir her, indem wir das individuelle Profil an Krebsmutationen bestimmen und diese Information in einen mRNA-Impfstoff übersetzen. Also wieder ein Steckbrief zur Kommunikation mit dem Immunsystem des Geimpften, aber diesmal für die Achillesfersen der Krebserkrankung – und einzigartig für jeden Patienten. Die Bereitstellung des maßgeschneiderten Krebsimpfstoffes dauert nur wenige Wochen. Das zeigt: Die Analyse von Mutationen, ein schnelles Design und die „on-demand“ Produktion eines mRNA Impfstoffes sind quasi unser Kerngeschäft – wir haben diesen Zyklus wieder und wieder für jeden einzelnen Krebspatienten durchexerziert. Für Covid-19 bedeutet das: Tritt ein neuer mutierter Virusstamm auf, der sich dem Schutz durch den bisherigen Impfstoff entzieht, können wir den mRNA-Impfstoff rein technologisch innerhalb weniger Wochen nachbessern.

Bei über 20 Virusvarianten ist die Impfantwort neutralisierend.

Dr. Özlem Türeci

Wir kennen solche Modifikationen beim Grippeimpfstoff, da ist dann auch nicht jedes Mal eine neue Phase-III-Studie nötig. Wäre das bei Modifikationen an Ihrem Impfstoff ähnlich?

Im Prinzip ja. Dort und bei unseren individualisierten Krebsimpfstoffen sagen die Behörden, dass nicht jedes Mal eine neue klinische Studie nötig ist, solange wir immer nach demselben Muster arbeiten und bestimmte Qualitätsstandards erfüllen. Auf diesen Vorerfahrungen können wir und können auch die regulatorischen Behörden aufbauen. Was noch fehlt, sind detaillierte Vorgaben der Behörden, welche Teile der klinischen und präklinischen Prüfung nötig sind, bevor ein modifizierter mRNA-Impfstoff genutzt werden kann. Auch hierzu sind wir bereits im Austausch, um schnellstmöglich reagieren zu können, sollte es in Zukunft eine Mutation geben, vor der unser Impfstoff nicht schützt.

Was schätzen Sie, wie häufig solche Veränderungen des Impfstoffs nötig werden könnten?

Das wissen wir noch nicht. Viren verändern sich ständig. Diesen kennen wir noch nicht genug, lernen aber jeden Tag dazu. Die Mutationen können die Wirksamkeit der Vakzine beeinflussen, wie beim Grippevirus. Sie können die Gensequenz aber auch so verändern, dass die Antigenität – und damit die Impfstoffwirksamkeit – davon unberührt bleibt. Grundsätzlich gehört das SARS-CoV-2-Virus eher zu den antigenstabileren Viren. Das kann man unter anderem von der Mutationsfrequenz ableiten. Die Impfstoffwirkung sollte auch deswegen relativ stabil sein, weil sie sich gegen die Bindungsdomäne richtet, also den Eingangsschlüssel für die Zelle. Hier ist die Evolution des Virus eher zurückhaltend, weil es sich nicht leisten kann, die Bindungsfähigkeit zu verlieren. Das heißt: Es wird viele Varianten geben, die durch unsere Impfung abgedeckt sind. Bisher haben wir bei über 20 Virusvarianten – so auch bei Mutationen der UK- und Südafrika-Variante – in Labortests gezeigt, dass die Impfantwort bei mit unserer Vakzine behandelten Personen neutralisierend ist. Für alles weitere müssen wir uns von den Daten leiten lassen, die derzeit überall auf der Welt erhoben werden. Es gibt intensive Diskussionen unter Beteiligung von wissenschaftlichen Expertengruppen, der WHO und regulatorischen Behörden. In den nächsten Monaten werden wir ein Verständnis dafür entwickeln, wann eine Impfung an einen neuen SARS-CoV-2-Virusstamm angepasst werden muss.

Wir haben uns schon Jahre vor der Gründung mit mRNA beschäftigt.

Dr. Özlem Türeci

Sie haben das Unternehmen BioNTech 2008 mitgegründet. Wie lang hatten Sie sich da schon mit der mRNA-Technologie beschäftigt?

Wir hatten uns schon mehrere Jahre vor der BioNTech-Gründung mit der Technologie beschäftigt. Damals haben wir erkannt, dass wir die mRNA optimieren müssen, um sie pharmazeutisch als Wirkstoff nutzen zu können. In diese Arbeit haben wir viele Jahre investiert, und sie ist einer der Gründe, warum wir unseren Covid-19 Impfstoff so schnell entwickeln konnten. Wir mussten beispielsweise Modifikationen entwickeln, um die mRNA zu stabilisieren und sie vor dem allzu schnellen Abbau in der Zelle zu schützen. Außerdem haben wir die mRNA so verändert, dass die Zelle mehr Protein daraus herstellen kann. Und wir haben Verfahren entwickelt, mit denen wir die mRNA zielgerichtet in die Antigen-präsentierenden Zellen einbringen können.

Wie wichtig war in dieser Phase die Förderung durch das BMBF?

In dieser frühen Phase, vor der Gründung des Unternehmens, hat uns die Go-BIO Förderung des BMBF sehr geholfen. Damals ging es konkret um einige der gerade genannten Modifikationen im „Rückgrat“ der mRNA, um sie pharmazeutisch zu optimieren. Ugur Sahin, der diesen Antrag gestellt hatte, setzte ein Hochdurchsatz-Screening auf und erarbeitete mit unserem Team Modifikationen, mit denen man mRNA die jeweils gewünschten Eigenschaften verleihen kann. Das war im Grunde die Start-up-Phase von BioNTech. Diese Vorarbeiten haben dazu beigetragen, dass wir mRNA heute so breit einsetzen – nicht nur in der Krebstherapie und der Infektionsprävention. Präklinisch haben wir auch den Einsatz bei entzündlichen Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose erschlossen.

Sie haben später dann noch eine zweite BMBF-Förderung in Anspruch genommen, die Spitzencluster-Förderung. Welchen Stellenwert hatte die?

Förderung an der translationalen Schnittstelle ist sehr wichtig.

Dr. Özlem Türeci

Das war eine weitere wichtige Förderung – und nicht nur für uns. Das C3-Spitzencluster mobilisierte damals quasi die ganze Rhein-Main Region, also kleine Biotech-Unternehmen wie uns, sowie akademische Institutionen und Universitätskliniken zu zusammenarbeitenden Netzwerken. Bei dieser Förderung ging es um die Entwicklung von Immuntherapien in Richtung klinischer Anwendung, und das kam auch einigen unserer mRNA-Programme zugute. Ich halte es für sehr wichtig, dass es eine solche Förderung an der translationalen Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und Privatwirtschaft gibt. Die Förderung hilft auch dabei, Investoren zu finden. Denn Investoren sehen in einer BMBF-Förderung oder einer anderen seriösen Förderung mit Peer Review und Begutachtung einen Hinweis auf wissenschaftliche Exzellenz.

Stichwort Investoren: Wie hat sich die Entscheidung, den Schwerpunkt auf SARS-CoV-2-Impfstoffe zu legen, auf Ihre Krebsforschung ausgewirkt? Denn die Investoren, von denen Sie reden, haben bis dahin ja vor allem wegen Ihrer Krebsprojekte in Ihr Unternehmen investiert.

Die Pandemie hat Auswirkungen auf die Versorgung von Krebspatienten und ihren Zugang zu klinischen Studien wie auch auf Biotech-Firma, die sich auf Krebstherapien spezialisiert haben. Wir haben es trotz erschwerter Bedingungen geschafft, mit etwas weniger Tempo unsere Krebstherapie-Entwicklungsprogramme weiterzuführen und unsere Pipeline weiterzuentwickeln. Die Initiative für diese Entscheidung ging Anfang 2020 von Ugur Sahin aus. Er hat uns allen, den Aufsichtsräten und unseren Investoren, sehr plausibel gemacht, dass der Weg aus der Pandemie heraus durch sie hindurch führen würde – und dass unsere besondere Expertise zur Erschließung dieses Weges beitragen kann.  

Sie haben Ihren CEO und Mitgründer erwähnt, der ja auch Ihr Ehemann ist. Sie waren bei der Forschung und auch bei den Firmengründungen – BioNTech war ja schon Ihr zweites Unternehmen – immer zusammen aktiv. Gab es da einen Masterplan? Wollten Sie von Anfang an gemeinsam forschen und Unternehmen gründen?

Mit Ego alleine geht es nicht.

Dr. Özlem Türeci

Masterplan insofern, als wir dieselben Interessen hatten und gemeinsam Forschungsteams geführt haben, die gut funktionierten. Die Unternehmensgründungen haben sich dann eher im Laufe der Zeit ergeben, weil wir Stück für Stück verstanden haben, was die jeweils nächsten Aufgaben sind. Das war auch für uns ein Lernprozess. Wir haben im akademischen Bereich als Ärzte angefangen. Wir kamen oft an den Punkt, einem Krebspatienten keine Therapie mehr anbieten zu können. Wir hatten aus unseren Doktorarbeiten ein gutes Verständnis dafür, was wissenschaftlich und technologisch möglich wäre. Wir haben uns gefragt: Warum kommt wissenschaftlich-technologische Innovationen nicht schnell genug zu den Patienten? So haben wir begonnen, uns für Translation zu interessieren. Und das bedeutete dann irgendwann, Firmen zu gründen und zu translationalen Instituten beizutragen, wie dem auf Immunonkologie spezialisierten TRON hier in Mainz und dem Helmholtz Institut HI-TRON.

Was würden Sie jungen Menschen, die sich durch Sie inspiriert fühlen, empfehlen?

Es gibt mit Sicherheit verschiedene Wege, einen Beitrag dazu zu leisten, dass Wissenschaft ihrem nobelsten Ziel folgen kann, Menschen zu helfen. Das Feld der biomedizinischen Translation ist extrem interdisziplinär. Das sehen wir auch bei uns – wir stellen Mediziner, Biologen, Informatiker, Biostatistiker, Chemiker und viele andere ein. Was, glaube ich, wichtig ist: Wer zu einem Wanderer zwischen den Welten, zwischen Wissenschaft und Anwendung werden will, und darum geht es letztlich, der muss zwei Dinge kombinieren – Mut und Demut. Um definierte Karrierewege zu verlassen, persönliche Risiken einzugehen und an einer wissenschaftlichen Vision festzuhalten, dafür braucht es Mut. Da ist es dann auch gut, dass es Organisationen wie das BMBF gibt, die nicht nur Senior-Autoren, sondern auch junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen. Mut reicht aber nicht. Es geht auch darum, einzusehen, dass eine einzelne Innovation nicht zum Ziel führt. Es müssen Expertisen und Menschen zusammengeführt werden, die gemeinschaftlich, mit unternehmerischem Geist und nachhaltig dafür sorgen, dass Translation gelingt. Dafür braucht es Demut. Mit Ego alleine geht das nicht.

Das Gespräch führte Philipp Grätzel von Grätz.