Dezember 2020

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„Nur“ Schwindel oder doch ein Schlaganfall? – Schnellere und genauere Diagnose dank CATCH2

Wer mit Schwindelsymptomen in die Notfallambulanz kommt, ist auf schnelle Hilfe und eine genaue Diagnose angewiesen. In einer BMBF-geförderten Studie haben Münchener Forschende ein Testverfahren namens CATCH2 entwickelt, das zu beidem beitragen kann.

Frau trägt Apparatur zur Videookulographie. Mit diesem Gerät können Augenbewegungen gemessen werden.

Die Videookulographie, eine apparative  Zusatzdiagnostik der Augenbewegungen, hilft, einen Schlaganfall als Ursache von Schwindelsymptomen auszuschließen.

Professor Erich Schneider

Schwindelgefühle können ein wichtiger Hinweis darauf sein, ob jemand einen Schlaganfall erlitten hat – umso wichtiger ist es, dies möglichst schnell in Diagnose und Behandlung zu berücksichtigen. Etwa jeder zehnte Schlaganfall mit dem Leitsymptom Schwindel wird zunächst jedoch übersehen. Ein weiteres Problem: Je milder die Schwindelsymptome und je jünger die Patientinnen und Patienten sind, desto größer ist sogar die Gefahr einer Fehldiagnose. In den meisten Fällen gibt es keine schwerwiegenden Ursachen für akuten Schwindel, bei jedem vierten Betroffenen aber verbirgt sich hinter den Symptomen eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung.

In der Notfallmedizin stellt dies eine besondere Herausforderung dar: Ärztinnen und Ärzte müssen möglichst schnell und sicher ausschließen können, ob die unklaren Schwindelsymptome Anzeichen für einen Schlaganfall sind. Dabei hilft der Indextest CATCH
2, den ein Münchener Forschungsteam in der sogenannten EMVERT-Studie entwickelte – eine Studie, die die Adressaten in der Notfallmedizin bereits im Namen trägt: EMergencyVERTigo. „Uns ging es um einen einfachen diagnostischen Test, der in der Praxis leicht einsetzbar ist und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte direkt bei der Risikoabschätzung unterstützt“, erläutert Professor Dr. Andreas Zwergal vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ). Die EMVERT-Studie wurde im Rahmen der Förderung „Integrierter Forschungs- und Behandlungszentren“ (IFB) mit insgesamt rund 336.000 Euro über vier Jahre hinweg durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt.

Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ)

Das Deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) wurde 2009 als Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) für Schwindel, Gleichgewichts- und Augenbewegungsstörungen ins Leben gerufen. Ziel der Einrichtung ist es, die Patientenversorgung über eine fachübergreifende Kooperation zu stärken sowie einheitliche Standards in Diagnostik und Therapie zu entwickeln.
Das DSGZ wurde zehn Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit insgesamt fast 40 Millionen Euro gefördert. Seit November 2019 ist das DSGZ ein selbstständiges interdisziplinäres Zentrum am Klinikum der LMU München.

Zusätzliche Augenuntersuchung erhöht Genauigkeit der Diagnose

Porträt von Professor Dr. Andreas Zwergal

Professor Dr. Andreas Zwergal

Universitätsklinikum München

CATCH2 basiert auf einer gezielten Anamnese, der Abklärung kardiovaskulärer Risiken und einer apparativen Zusatzdiagnostik der Augenbewegungen. Berücksichtigt werden verschiedene Indizien: unter anderem, ob neurologische Symptome neben dem Schwindel vorliegen, zum Beispiel eine Halbseitenlähmung, das Alter der Patientinnen und Patienten sowie möglicherweise vorausgegangene Auslöser für die Schwindelgefühle. Mittels Videookulographie, einem nicht invasiven Verfahren zur Registrierung von Augenbewegungen, wird geprüft, ob ein vertikales Abweichen der Augenachse vorliegen könnte. „Dank CATCH2 können wir mit einer Genauigkeit von 86 Prozent sagen, ob ein Schlaganfall als Ursache von akutem Schwindel vorliegt oder nicht – bereits bekannte Tests liegen zum Teil deutlich niedriger“, so Zwergal. „In einem Teilprojekt unserer Studie konnten wir die Genauigkeit unserer Diagnose dank moderner Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) sogar auf 96 Prozent erhöhen.“

Schwindel

Schwindel, Gleichgewichts- und Gangstörungen gehören zu den häufigsten Symptomen in der Medizin. Von den Patientinnen und Patienten, die einen niedergelassenen Neurologen oder HNOArzt aufsuchen, klagt jeder fünfte bis sechste über Schwindel. Schwindelgefühle können verschiedene Ursachen haben, aber auch auf einen Schlaganfall hindeuten. Bei jedem vierten Betroffenen verbirgt sich hinter den Symptomen eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung. Oft aber werden die Ursachen nur unzureichend diagnostiziert und in der Folge auch nicht angemessen behandelt. Schwindelgefühle deuten immer darauf hin, dass
es irgendwo in den körperlichen Gleichgewichtssystemen eine Störung gibt – eine sorgfältige Anamnese der Symptome, aber auch eine neurootologische Untersuchung der Augen und Ohren ist deshalb von besonderer Bedeutung.


Das Team um Zwergal rekrutierte für die EMVERTStudie insgesamt 410 Patientinnen und Patienten mit akuten Schwindelsymptomen mit unklarer Ursache – das macht die Untersuchung zu einer der weltweit größten prospektiven Studien zu diesem Thema. Bemerkenswert ist auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei dem Vorhaben: Gemeinsam mit Fachkräften aus der Informationstechnologie und der Datenwissenschaft entwickelten Ärztinnen und Ärzte ein neues Prinzip des maschinellen Lernens, die „Multigraph Geometric Matrix Completion“, mit dem sich komplexe Datenmengen gleichzeitig abbilden lassen. Auch die Analyse der nach diesem Prinzip gesammelten Daten erfolgte gemeinsam mit Dateningenieuren. Für jeden der 410 Patienten wurden dabei 305 verschiedene Untersuchungsdaten erhoben – ein multimodaler Datensatz, auf den sowohl Verfahren der konventionellen Datenanalyse als auch der künstlichen Intelligenz angewendet wurden.

Einsatz und Validierung in Notfallambulanzen geplant

Von diesem Mehr an diagnostischer Sicherheit in einer Notfallsituation profitieren sowohl Patientinnen und Patienten als auch Ärztinnen und Ärzte: Im nächsten Schritt soll CATCH2 an mehreren Standorten im Alltag getestet werden und gegebenenfalls in einer weiteren Studie validiert sowie in Softwaremodulen von Notaufnahme-Systemen verankert werden. „Mittelfristig soll möglichst allen Ärztinnen und Ärzten in der Notfallmedizin ein wirklich genaues diagnostisches Unterstützungssystem zur Patientenbehandlung zur Verfügung stehen“, erläutert Zwergal, „deshalb arbeiten wir aktuell an einer weiteren Verfeinerung der eingesetzten KI-Verfahren."

Die Erkenntnisse der EMVERT-Studie, davon ist der Wissenschaftler überzeugt, könnten zudem zur Aufklärung einer breiteren Bevölkerung genutzt werden. Nicht anders sei dies bei anderen Schlaganfallsyndromen gewesen, wie etwa Halbseitenlähmungen oder Sprachstörungen, die als Anzeichen für einen Schlaganfall in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wurden. In der wissenschaftlichen Community ist der Studie schon jetzt große Aufmerksamkeit zuteil geworden – nicht zuletzt durch mehrere Auszeichnungen und Preise. So erhielt Andreas Zwergal den „Young Investigator Award“ der Bárány Gesellschaft, benannt nach Robert Bárány, einem österreichischen Mediziner und Neurophysiologen, dem 1914 der Nobelpreis verliehen worden war.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Andreas Zwergal
Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum
(DSGZ)
LMU Klinikum der Universität München
Marchioninistraße 15
81377 München

Andreas.Zwergal@med.uni-muenchen.de