Interview mit Dr. Ulrike Bingel, Schmerzforscherin an der Universität Hamburg, über Voraussetzungen, Wirkmechanismen und die Rolle des Arztes
Frau Dr. Bingel, bei wie vielen Patienten lässt sich der Placebo-Effekt beobachten?
In Studien sprechen zwischen 20 und 90 Prozent der Patienten auf wirkstofffreie Medikamente an. Im klinischen Alltag würde ich schätzen, dass sie etwa jedem Zweiten helfen. Der Placebo-Effekt betrifft aber nicht nur Placebos, sondern auch richtige Arzneien. Er verstärkt deren pharmakologische Wirkung. Ein Schmerzmittel lindert den Schmerz effektiver, wenn der Patient von dessen Wirkung überzeugt ist.
Was sind die Voraussetzungen für den Placebo-Effekt?
Der Patient muss eine Linderung seiner Beschwerden erwarten. Das kann erreicht werden, indem der Arzt erklärt, was das Medikament bewirkt, also dass es zum Beispiel gegen Übelkeit hilft. Die Erwartungshaltung kann aber auch durch einen Lernprozess entstehen. Wenn mir Aspirin fünfmal gegen Kopfschmerzen geholfen hat, werde ich beim sechsten Mal wahrscheinlich auch dann eine Besserung verspüren, wenn das vermeintliche Aspirin ein Placebo ist. Teilnehmern von klinischen Studien geht es oft schon dadurch besser, dass sie bei der Studie mitmachen, und zwar noch bevor die eigentliche Testphase begonnen hat. Hier führt die intensive Betreuung und Vorbereitung dazu, dass sie fest mit effektiver Hilfe rechnen.
Wie wirken Placebos?
Der Wirkmechanismus weist oft Parallelen zur Krankheit auf, die behandelt werden soll. Man hat gezeigt, dass der schmerzlindernde Effekt von Placebos über körpereigene, morphiumähnliche Substanzen, so genannte endogene Opiate, vermittelt wird. Bei der Parkinson-Krankheit wird unter einer Placebo-Therapie vermehrt der Botenstoff Dopamin im Gehirn ausgeschüttet, von dem die Patienten zu wenig haben. Und eine Placebo-Therapie zur Unterdrückung der Körperabwehr scheint das Immunsystem zu beeinflussen.
Sprechen manche Menschen besser auf Placebos an als andere? Gibt es Vergleiche zwischen Männern und Frauen oder Kindern und Erwachsenen?
Vergleiche zwischen Männern und Frauen sind mir nicht bekannt. Kinder sprechen auf Placebos besonders gut an. Eltern wissen das. Pusten und ein buntes Pflaster vertreiben die Schmerzen oft sofort. Weil der Placebo-Effekt bei Kindern so ausgeprägt ist, hat es manches echte Medikament sogar schwer, für Kinder zugelassen zu werden. Neue Arzneien müssen vor der Zulassung ja zeigen, dass sie besser wirken als ein Placebo. Bestimmte Mittel gegen Migräne, für die dieser Nachweis bei Erwachsenen erbracht ist, sind für Kinder bis heute nicht auf dem Markt, weil sie gegenüber den enorm wirksamen Placebos keinen Vorteil bieten.
Funktioniert der Placebo-Effekt auch bei schweren Erkrankungen wie koronarer Herzkrankheit oder Krebs?
Ja. Patienten mit koronarer Herzkrankheit kann es nach einer Operation zur Erweiterung der verengten Herzkranzgefäße besser gehen, obwohl der Eingriff gar nicht erfolgreich war und die Engpässe in den Herzkranzgefäßen weiter bestehen. Bei anderen Operationen treten ähnliche Phänomene auf. Chronische Knieschmerzen bessern sich zum Beispiel oft nach einer Scheinoperation. Und ständig wiederkehrende Bauchbeschwerden aufgrund von Verwachsungen können sich zurückbilden, wenn der Chirurg die Bauchdecke nur kurz öffnet, ohne die Verwachsungen zu lösen. Ich halte auch Wunderheilungen von todkranken Pilgern wie in Lourdes für Extremfälle des Placebo-Effektes.
Welche Rolle spielt der Arzt beim Placebo-Effekt?
Seine Rolle ist ganz entscheidend. Wenn er es schafft, eine positive Erwartungshaltung beim Patienten zu wecken, wird die Behandlung viel erfolgreicher sein. Wie ihm das gelingt, kann aber von Patient zu Patient variieren. Manche Patienten bevorzugen einfühlsame, verständnisvolle Ärzte, die sich viel Zeit nehmen und alles im Detail erklären. Andere vertrauen eher einem Arzt, der einfach seinen Rezeptblock zückt und sagt: „Diese Tablette wird Ihre Kopfschmerzen beenden.” In jedem Fall muss der Arzt dem Patienten aber erläutern, welche Wirkung er zu erwarten hat, sonst funktioniert der Placebo-Effekt nicht. Wenn man einem Schmerzpatienten ohne sein Wissen Morphium spritzt, wirkt es wesentlich schwächer. Deshalb sollte man Patienten auch nicht einfach eine neue Tablette in das Medikamentenschälchen legen, ohne ihnen zu sagen, was es ist und warum die Einnahme sinnvoll ist. Man enthält den Kranken sonst den Placebo-Effekt zum größten Teil vor.
Was ist der Nocebo-Effekt?
Der Nocebo-Effekt ist die Kehrseite des Placebo-Effektes. Wenn der Arzt seine Patienten darauf aufmerksam macht, dass bestimmte Tabletten Übelkeit verursachen können, werden viele Menschen sich tatsächlich übergeben - auch wenn es sich um Smarties handelt. Und bei einem Patienten mit chronischen Schmerzen, der erfolglos schon zehn Schmerzmedikamente ausprobiert hat, wird sehr wahrscheinlich auch das elfte Medikament versagen. Der Patient hat eine negative Erwartungshaltung aufgebaut, die die Wirkung erheblich behindert.