„Dynamik“ ist ein Begriff, der den Forschungsalltag von Prof. Dr. Kai Nagel prägt wie kein anderer – er ist Experte für Bewegungsmuster und Mobilitätsforschung. In der Corona-Pandemie berechnet er Ausbreitungswege des Coronavirus SARS-CoV-2.
Mit Bewegung und Mobilität kennt er sich aus. Und auch mit Stillstand. Der Berliner Verkehrsforscher Kai Nagel ist einer der beiden Physiker, die das „NaSch-Modell“ formulierten – ein nach ihm und seinem Kollegen Michael Schreckenberg benanntes Modell zur Simulation des Straßenverkehrs. Erstmals konnte dieses Modell erklären, wie die sogenannten Phantomstaus entstehen, Staus, die sich ohne erkennbaren Anlass gleichsam aus dem Nichts bilden, weil Sicherheitsabstände nicht eingehalten und abrupte Bremsmanöver nötig werden.
Auch hat Nagel, Leiter des Fachgebiets Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der Technischen Universität Berlin, gemeinsam mit Kollegen das MATSim-Tool entwickelt. Mit dieser Open Source-Software lassen sich Verkehrsflüsse besser verstehen, vorhersagen und steuern. Vor allem in der Wissenschaft hat sich das Simulationsmodell durchgesetzt: Heute wird es weltweit zur Einschätzung des alltäglichen Bewegungsverhaltens einer Bevölkerung genutzt oder wie im Fall der indonesischen Metropole Padang zur Simulation großräumiger Evakuierungsszenarien bei Flutkatastrophen.
Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie aber rückte das Thema Gesundheit für den Informatik-Experten in den Mittelpunkt: Die Mobilitätsmodelle auf die Ausbreitung eines Virus zu übertragen wurde zu einer Herausforderung, die Nagel und seinem Team nur wenig Zeit für anderes ließ. Im März 2020 ließ er die dem Robert Koch-Institut und den Gesundheitsämtern vorliegenden Daten erstmals in sein Modell einfließen, und trotz deren Komplexität und wiederholt nötiger Aktualisierungen konnten er und sein Team kurze Zeit später bereits genauere Aussagen zur Entwicklung der Infektionsdynamik treffen.
Von der Verkehrssystemplanung zur Infektionsdynamik
Mit seinen Prognosen kam der Wissenschaftler der Realität oft sehr nahe und so wurde er in den vergangenen 18 Monaten zu einem vielzitierten Experten bei der Simulation des Ausbreitungsverhaltens von SARS-CoV-2. Seine Modellierungen finden in der Politik und der Öffentlichkeit Gehör; anhand seiner Simulationen lässt sich zum Beispiel auch der potentielle Erfolg von Maßnahmen wie Kontaktsperren oder Schulschließungen berechnen.
Wie bei allen Modellierungen arbeiten auch die Berliner Forschenden in einigen Bereichen mit Schätzungen oder Annahmen – zum Beispiel muss jeweils das zukünftige Niveau der Freizeitaktivitäten geschätzt werden, weil das Ausbreitungsgeschehen entscheidend davon abhängt. Der Hauptzweck des Modells liegt darin, Politik und Gesellschaft Entscheidungshilfen an die Hand zu geben. Die Modellierungen liefern keine präzisen Vorhersagen, sondern stellen „begründete Vermutungen“ über mögliche Entwicklungspfade an, wie Nagel es formuliert, die Tendenzen und Richtungen oft aber sehr genau darstellen.
Dass nicht alle seiner Prognosen sich bewahrheiteten, stellt das Modell somit nicht grundsätzlich in Frage, denn es sind viele Variablen und Annahmen, die in Nagels Berechnungen einfließen: Verhaltensänderungen in der Bevölkerung, Maßnahmen der Politik, das Auftreten von Virusvarianten, die Verfügbarkeit von Vakzinen und steigende Impfquoten. Der 56-Jährige zieht deshalb ein positives Fazit: „Uns war wichtig, die von uns entwickelte Methodik aus dem Bereich der Mobilitätsforschung relativ schnell an eine andere Problemstellung anpassen zu können – diesen Praxistest haben wir bestanden, und das war natürlich bei allem Zeitdruck eine tolle Erfahrung“.
Als Forscher unterwegs um den Globus
„Dinge zu verstehen, die anderswo vielleicht nicht verstanden werden, und sie so zu erklären, dass sie zu Verständnis und daraus abgeleitetem Handeln führen“ sei schon immer eine der wichtigsten Triebfedern seiner Arbeit gewesen, sagt der Physiker rückblickend. Bewusst habe er sich für die Physik entschieden („eine Grundlage, die man immer brauchen kann“), sich als passionierter Segler viel mit Meteorologie und Ozeanologie beschäftigt („physikalische Prozesse und Fluiddynamik sind sich eben sehr ähnlich“) und vor allem Spaß am Programmieren gefunden. „Es waren nicht so sehr Zahlen, Tabellen oder Gleichungen, die mich für mein Fachgebiet begeisterten, sondern die Möglichkeit, Prozesse in den Computer einzugeben und sehen zu können, wie diese Prozesse miteinander agieren“, beschreibt es der gebürtige Kölner.
Stationen rund um den Globus eröffneten Nagel dazu entsprechende Möglichkeiten. Seine Tätigkeit als Assistenzprofessor an der ETH Zürich sowie Forschungsaufenthalte in Seattle, London und Kopenhagen, am Santa Fe Institute und an der Yale University hat er in schöner Erinnerung. Und nicht zuletzt das Studium in Paris und besonders seine Jahre zunächst als Postdoc und später als Leiter eines Forschungsteams am Los Alamos National Laboratory in den USA: Dort wurden schon früh komplexe Simulationen zu Stadtplanungen am Computer erstellt.
„Wie kann das, was wir an Simulationsmodellen aufbauen, auch und gerade in Ländern nützlich sein, die dies eher nicht aus eigener Kraft machen“, nennt der Physiker die Beweggründe, die ihn 2013 ins südafrikanische Pretoria führten, in ein Land, in dem in der Verkehrs- und Stadtplanung „noch unheimlich viel in Bewegung“ ist.
Geteilte Forschungsdaten? – „Das war unglaublich hilfreich.“
Ohne beharrliches Interesse und beständige Neugier – das ist für Nagel heute noch genauso wie vor Jahrzehnten – lässt sich aus seiner Sicht nur schwer eine Karriere in der Wissenschaft verwirklichen; genauso wichtig ist ihm der Austausch im Team, mit Kolleginnen und Kollegen auch anderer Disziplinen. „In der Corona-Pandemie war es wichtig, Daten schnell und unkompliziert recherchieren zu können“, sagt Nagel. „Von Beginn an waren die Daten und Publikationen frei verfügbar – das war für unsere Arbeit unglaublich hilfreich“.
Für die nahe Zukunft freut sich Kai Nagel jedoch vor allem auf eines: in Ruhe aufarbeiten, was „auf Halde“ liegt und wirklich bis ins Kleinste analysieren, was er und sein Team in den vergangenen Monaten zusammengesammelt haben. Das bedeutet sortieren, aufschreiben, publizieren, zu Ende bearbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse für neue Ansatzpunkte nutzen. Und zu einer „gesunden Work-Life-Balance“ zurückfinden, die weniger hektische Prozesse beinhaltet als sein aktueller Forschungsalltag: Wandern, Radfahren und gern auch ein ruhiges Abendessen auf der Terrasse.
Prof. Dr. Kai Nagel und die von ihm geleitete Arbeitsgruppe beschäftigen sich im Verbundvorhaben MODUS-COVID mit der modellgestützten Untersuchung von Schulschließungen und weiteren Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19. Das Vorhaben unter Federführung der Technischen Universität Berlin zielt auf ein besseres Verständnis von Ausbreitungsdynamiken und Infektionsketten ab und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für vier Jahre mit rund 3,2 Mio. Euro gefördert. In Nicht-Pandemiezeiten widmet sich das Team der menschlichen Mobilität und berechnet beispielsweise wie der Verkehrsfluss in Städten geleitet werden kann, damit Auto, ÖPNV und Fahrrad gleichermaßen davon profitieren.